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Hoffen und Harren der Deutschen MS-Forschung

Quelle: Blickpunkt 3/03
Copyright: M.S.K. e.V. bzw. Dr.-med. Rainer Hesse



Einleitung

"Vorderhand ist die Prognose sehr ungünstig... soll ich Sie da lange mit der Therapie aufhalten? Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo diese allen Ernstes in Angriff genommen werden kann. Ich könnte nur von Versuchen reden, welche bis jetzt angestellt worden sind und deren Ergebnisse im allgemeinen wenig günstig gewesen sind..." Jean Martin Charcot, Vorlesungen, vor 1870.

Wir lesen und hören zwar wieder und wieder, welche "Fortschritte" es in der MS-Forschung gegeben habe; diese bestehen überwiegend jedoch in einer Anhäufung von wissenschaftlich nicht ganz uninteressanten Einzelheiten; für die Kranken und unsere Gesellschaft sind, um den Preis von Nebenwirkungen und erheblichen Aufwendungen, konkret eine leichte Bremsung bei der Häufigkeit von Schüben und dem Tempo der Verschlechterung abgefallen. Die Frage nach der Ursache von MS, ohne deren Aufklärung es nicht ernstlich weitergehen kann, bleibt unbeantwortet, es gibt folglich immer noch keine Aussicht auf Heilung. Lassen wir uns daher nicht von irgendwelchen Mystifikationen, die sich als Erkenntnis aufspielen und aussortierte Pharmaprodukte als Erfolgsmodelle anpreisen, zu sehr beeindrucken.

Ein unabhängiger Beobachter kann weiterhin die entscheidende Frage so stellen: Wie kann es sein, dass die multiple Sklerose, mehr als 130 Jahre nach den Vorlesungen Charcots mit seiner klassischen Beschreibung der Erkrankung, heute noch im Prinzip denselben trostlosen Anblick wie ehedem bietet? Eine Katastrophe für Betroffene und Familien, eine schwere soziale Last für uns alle. Und das im dritten Jahrtausend, im Schoße einer wohlhabenden und selbst dort, wo es um viel unwichtigere Dinge geht, ehrgeizigen und leistungsfähigen Industriegesellschaft.

Problem

Liegt es an ganz außergewöhnlichen Lösungsschwierigkeiten des Rätsels, das uns die Krankheit aufgibt, oder sind Fehler der Konzeption, Planung, Organisation, Finanzierung von Forschung, also der Gesundheitspolitik, schuld? Freilich wird geforscht und geforscht, doch es sind stets dieselben Wege, die noch einmal ausgetreten und abgesucht werden. Muss man nicht die quälende Langsamkeit und sogar das Scheitern dieser Prozedur thematisieren? Niemand soll uns einreden, man habe doch alles, aber auch alles in nie erlahmender Wachsamkeit versucht. Solche Perfektion gibt es ohnehin nicht, und Stagnation ist ein Normalzustand der Wissenschaft. Laut Gaston Bachelard (1884-1962), der sich genau mit dem Problem des wissenschaftlichen Nichtfortschrittes beschäftigt hat, sind Erkenntnisblockierungen (obstacle épistémologique) und Fortschritt nicht nur eng liiert, sondern sogar untrennbar verbunden: Das Problem wissenschaftlichen Erkennens muss als Frage nach seinen Blockaden formuliert werden. ("C'est en termes d'obstacles qu'il faut poser le probléme de la connaissance scientifique...").

Welches sind, in der MS-Forschung, Gelegenheiten für Blockierungen?

Blockierung I: Ignorierung von Grundlagen

MS ist ein chronisch-entzündlicher Prozess. Eine chronische Entzündung ist durch selbständige oder durch von Erregern ausgelöste, Immunvorgänge bedingt; als Erreger könnten Viren, Bakterien, Pilze, Protozoen etc. in Frage kommen: solche sind entweder zum Zeitpunkt des Auftretens von Symptomen bereits durch den Organismus beseitigt, hinterlassen aber eine umprogrammierte immune Reaktionsbereitschaft, oder sie sind weiter vorhanden, wenn auch noch unidentifiziert. Aufgrund der erstaunlichen Beobachtung auf den Faröern sind wir fast gewiss, dass am Anfang der MS eine Infektion stattfinden muss. Der bedeutende Forscher Kurtzke hat sie als PMSA ("primary MS affection") bezeichnet. Wir erinnern uns an den "Primäreffekt" bei einer anderen Infektionskrankheit mnit chronisch-entzündlichem Verlauf.

Selbstverständlich kann es trotzdem grundsätzlich sinnvoll sein, wenn sich Forscher spezialisieren soweit es geht, z. B. auf die Immunvorgänge, die bei der (wenigstens ursprünglich einmal) infektionsbedingten MS zu beobachten sind. Sicherlich erfordert das sehr spezielle, nicht leicht zu erarbeitende Methodik. Weil aber zu viele aus Opportunismus und mangelnder Risikobereitschaft ins gleiche Fach eingestiegen sind, ohne auf diese Weise die Heilung von MS zu erreichen (auf die es im allgemeinen Interesse selbstverständlich ankäme), dann haben wir wohl ein Problem durch die scheuklappenförmige Begrenzung (Bachelard: "oeillé, Scheuklappen) von Forschung.

Blockierung II: geschlossene Gesellschaft

Ausschließlich neuroimmunologisch interessierten Experten wird heute widerspruchslos das Wort überlassen. Weder akademische Lehrer, noch Herausgeber von Zeitschriften, Sozialpolitiker, Wissenschaftsjournalisten, noch Funktionäre von Betroffenen sind fähig, eine Gegenmeinung auch nur zuzulassen, geschweige denn zu unterstützen. Die prominentesten deutschen MS-Forscher Toyka, Hohlfeld, Hartung, Kappos, Rieckmann, Gold u. a. bilden somit eine geschlossene und auch die einzige Fraktion von Wissenschaftlern gemeinsamer Anschauung. Sie treten bei sich zyklisch wiederholenden, im Grunde immer gleichen, Veranstaltungen gemeinsam, oder sich gegenseitig vertretend auf. Beispielsweise wird Jahr um Jahr in Baden-Württemberg von eine wegen ihres Ziels, Förderung von Therapiefortschritten bei MS, natürlich sehr löblichen Sobek-Stiftung ein Preis verliehen. 100.000,- Euro gehen an einen etablierten Wissenschaftler, immer einen Experimentator oder Theoretiker; Preisverleihungen an Praktiker kamen nicht in Betracht. Laudatiowürdige praktische Fortschritte hat es nämlich nicht gegeben. Die Klubmitglieder der exprimental-theoretischen Szene betätigen sich auf solchen Veranstaltungen als Künder von Fortschritten, die heutzutage in einer Anhäufung von vielen immunologischen Einzelheiten zu bestehen scheinen, deren Nutzen für den Betroffenen nicht erkennbar ist. In den verschiedenen Hausblättern ihrer Fachgesellschaft und deren Landesverbänden versuchen sie mit Beschwörungen von baldigen Therapieerfolgen vor den Betroffenen ihre Festlegung auf ein einseitiges Modell der Krankheit zu rechtfertigen. Es besteht seit Jahrzehnten aus derselben Kombination von zwei simplen Gedanken: MS sei "wahrscheinlich durch einen Virus" verursacht, vielleicht auch weiterhin unterhalten, und der Verlauf werde von "bedeutsamen autoimmunen Vorgängen" bestimmt, die schon als Erstursache nicht ganz auszuschließen seien. Beide Ideen konnten bisher weder im Verbund noch einzeln konkret belegt werden. Unfruchtbare Zusatz- und Auffanghypothesen von mehrfachen nosologischen Entinitäten und multiple Kausalitäten, vom Einfluss von Genetik und Umweltfaktoren, werden toleriert, weil sie den Primat von Virus und Autoimmunität nicht gefährden. Sicher geben die Analogien zu Autoimmunprozessen und Viruskrankheiten Gründe zu einer Hypothese, dass es bei der MS analoge Abläufe von Bedeutung geben könnte; jedoch reicht es logisch natürlich nicht zu einer Gewißheit, dass alle anderen Möglichkeiten wie durch göttliche Fügung ausgeschlossen worden sind. Die Gruppe von MS-Spezialisten aber, die ihre virusgetriggerte Autoimmunität nicht missen will, wehrt dissidentes Denken und Kritik an ihrer sozialen Dominanz als Spekulation und der Überprüfung nicht wert ab. Forschungsmittel werden verweigert, Veröffentlichungen abgelehnt, Zutritt zur Diskussion angewehrt.

In letzter Konsequenz wird so der gesellschaftliche Auftrag veruntreut, keine Chance zur Heilung auszulassen, um dafür unbewegliche Überzeugungen gegen Kritik zu schützen. Trotz seiner therapeutischen Ineffizienz seit Jahrzehnten wird diese Form des Dogmatismus immer noch öffentlich als Gipfel der Fortschrittlichkeit gefeiert und in Fördermittel, Auszeichungen und Aufträge der Pharmaindustrie umgemünzt.

Blockierung III: Fragwürdige Organigramme

Gegen Einseitigkeiten sollten freilich unabhängige Beiräte der Stiftungen, Fach- und Betroffenenverbände helfen. In den Beiräten der Deutschen Multiplen-Sklerose-Gesellschaft, in ihren Landesverbänden und z. B. auch in der Sobek-Stiftung sitzen jedoch keine unabhängigen, vielmehr diejenigen Wissenschaftler, die hauptamtlich Mitwirkende im Marketing der Pharmaindustrie und natürlich Experten der "Virus-und/oder-Autoimmunitäts"-Theorie sind. Mit der Pharmaindustrie leben sie folglich in einer finanziellen Abhängigkeit, die ihr Urteil kompromittieren kann. Wes' Brot ich eß, des' Lied ich sing, sagt der Volksmund.

Die politische Weisheit jedoch von Vereinsvorsitzenden und Stiftungsvorständen ist offenbar überfordert zu verhindern, dass Ideologie und Pharmamarketing in der Interessenvertretung der Betroffenen den Ton angeben.

In der Fachgesellschaft DMSG obendrein sitzen dieselben Wissenschaftler gleichzeitig sowohl im Vorstand wie im Beirat, so dass hier die sinnvolle Trennung zwischen Stabsstelle und Direktion zugunsten gegenseitigen Ballzuspiels aufgehoben ist.

Blockierung IV: Vorrang der Ökonomie

Bis zu einer Million Kranker stellen zweifellos einen wichtigen Markt dar. Alle sind potentielle Kunden neuer Erzeugnisse der Pharmaindustrie. Ein Produkt wie das Interferon beta 1b soll beispielsweise dreimal wöchentlich ohne Zeitlimit, vielleicht lebenslang, angewandt werden. Zu seiner Vermarktung ist die Industrie auf Experten in Kliniken und Hochschulen angewiesen. Die Wissenschaftler erarbeiteten dafür unter anderem einen Indikationskatalog anhand von Studienergebnissen. Weil die Studien von der Industrie bezahlt wurden, ist ihre Thematik von merkantilen Gesichtspunkten diktiert. Man wundert sich kaum über die Interessenschwerpunkte der Untersuchungen. Zuerst wurde die Behandlung der Kerngruppe der schubförmigen Verlaufsform getestet, dann die Ausdehnung der Behandlung auf Vorstadien (erstmaliger Schub) wie auf Spätformen (cronisch-progredienter Verlauf). Nebenbei versuchten sie das Produkt der Konkurrenz schlechter aussehen zu lassen. Aus dem gleichen Grund existieren wenige, wenn überhaupt, Studien mit nicht mehr patentfähigen Substanzen oder zu Themen wie: wann eine Behandlung nicht mehr fortzuführen ist, oder ob die Wirkung überhaupt auf dem Produkt statt auf Begleitmedikamention beruht.

Hier verwirklich sich eine These der Väter des Sozialismus vom gesellschaftlichen Primat materieller vor geistiger Führerschaft (die Stichhaltigkeit und Hochwertigkeit des Sozialismus soll hier weder unterstellt, noch untersucht werden; ich muss aber wegen des weit verbreiteten Vorurteils darüber doch darauf hinweisen, dass ein Vordenker der Moderne wie Karl Popper die sozialen Beobachtungen Marxens für sehr scharfsinnig hielt, durchaus im Gegensatz zu dessen politischen Handlungsanweisungen). Im Nachsatz des Zitats wird die Tendenz einer Untergruppe, die wir als von der Industrie emporgehobene und gehätschelte Wissenschaftler deuten, zur Selbstüberschätzung und Glorifizierung behauptet: "Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind ... Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse ... In der herrschenden Klasse (macht) der eine Teil als ... Ideologie die ... Illusion dieses Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweige ... während die anderen in Wirklichkeit die aktiven Mitglieder ... sind und weniger Zeit dazu haben, sich ... Gedanken über sich selbst zu machen ... Feindschaft beider Teile (kann sich) entwickeln, die aber bei jeder ... Kollision, wo die Klasse selbst gefährdet ist, ... wegfällt." (Karl Marx und Friedrich Engels (1846): "Die deutsche Ideologie")

Blockierung V: Erfolgsdruck

Aber unsere Fachleute wollen selbstverständlich nicht als Marionetten ihrer sozialen Rolle, sondern als Promotoren des Fortschrittes auftreten. So veröffentlichen sie Artikel um Artikel, die mit Schlagworten von "erfolgversprechenden Therapie-" bzw. "Forschungsansätzen" der Öffentlichkeit und sich gegenseitig versichern, sie hätten die Lösung schon zum Greifen nahe.

Einer der ersten, der seinen Erfolg in dieser Art schon proklamieren wollte, als die Ergebnisser noch ausstanden, war 1970 Ewald Frick, der es mit einer Frühform der Bekämpfung von Autoimmunität versucht hatte. Eine Wunscherfüllung durch rhetorische Wendigkeit, die Großes verspricht, sich den Rückzug durch die Hintertür aber offen hält, hielt Einzug: "Die Therapie mit Antilymphozytenglobulin und einer anschließenden Dauerbehandung im Imurek muss als erfolgversprechend angesehen werden. In keiner Fall ist es bisher zu neuen Krankheitsschüben oder zu einer weiteren Verschlechterung gekommen." Davon kann leider nach Kontrollstudien gar keine Rede sein.

In solchen (wie bei Frick, Münchner) Tradition schrieb Reinhard Hohlfeld 1991 über den "Stellenwert von Cyclossporin A und FK 506" in der Reihe "Aktuelle Therapie der MS". Die putativen Prüfsubstanzen passten zu den vorherrschenden Ansichten von entscheidenden Immunvorgängen bei MS. In dem Artikel hieß es zugleich, die Produkte seien noch weit davon entfernt, ideale Therapeutika zu sein. Erklärungen für den großen und Entschuldigungen im Falle des kleinen bzw. Misserfolgs waren also vorsichtshalber vereint: aktuell, aber nicht ideal. Die Wirklichkeit sah so aus: Cyclosporin A wurde praktisch erprobt, erwies sich jedoch als schlechter als Imurek. FK 506, heute Tacrolimus genannt, kam nie auch nur in einer Studie zum Einsatz. Nieten wurden also aus der Dogmatik heraus, die des praktischen Nachweises nicht mehr zu bedürfen schien, als Hauptgewinne angepriesen.

Die Medikamente sind in der Transplantationsmedizin Standard. Verpflanzte Nieren und Herzen vermögen sie auffallenderweise trotz ihres weiten Abstandes vom idealen Immuntherapeutikum vor Abstoßung durch autoimmune Prozesse zu schützen.

Mit der Einführung von Interferon-beta in die MS-Therapie entstand das Bedürfnis nach einer elastischen Bezeichnung seiner Wirkungsweise. Mit "Immunmodulation" war zwar nicht erklärt, jedoch würde es immer möglich sein, der Substanz und ihren Folgepräparaten ganz allgemein eine Einflussnahme, d. h. Modulation, im Immunsystem zu unterstellen.

Kann man aus Wischiwaschi ein heuristischen Prinzip machen? Für Klaus Toyka schien 1995 jedenfalls der Moment gekommen, den Forschritt zu preisen, als ob er sich durch Extrapolation der Gegenwart abpressen ließe: "Die laufenden und sich für die Zukunft abzeichnenden Entwicklungen berechtigen zu einer optimistischen Einschätzung der Zukunft in der MS-Therapie."

Gegen soviel futuristische Naivität stehen die Erkenntnisse des französischen Philosophen Bachelard, der das Sprunghafte, nicht Kontinuierliche des wissenschaftlichen Forschritts beschrieb. Dieser tritt gerade nicht als absehbare Verlängerung, sondern als überraschende Überwindung des status quo auf: "Was man vorher hätte bedenken müssen, ist immer erst hinterher klar". "Alles Reelle tritt aus Chimären hervor, man muß vor den anderen diese Chimären entlarven, damit sie überhaupt begreifen, wie man das Reelle gefunden hat". "Unsere Nachfahren werden es deswegen besser machen, weil sie es anders machen werden." "Wissenschaftlicher Fortschritt ist immer Umsturz einer Illusion."

Ein wenig Wissenschaftsgeschichte kann uns somit die Augen öffnen und uns die Frage an eine in großen Versprechungen schwelgende Forschung in den Mund legen: Kommt die MS-Forschung an selbst geschaffenen Hindernissen nicht vorbei? Denn daß wir bei allem diagnostischen Fortschritt in der Therapie auf der Stelle treten, sieht schließlich jeder, der MS-Patienten betreut.

Blockierung VI: Nebulöse Begriffe

Während die Deutschen sich mit "Immundmodulation" aufblasen, sprechen die Angelsachsen nur vom "disease modyfying". Das Paradigma "Supression" war offensichtlich nicht mehr zu retten. Keiner will aber zugeben, dass man damit erfolglos geblieben und zu lange darauf herumgeritten war. Die Autoimmungenese der MS war in einer Reihe von Versuchen nicht bestätigt worden, mithin falsch. Weder Azathioprin, Cortison, Cyclophosphamid, Cyclosporin A, Deoxispergualin, noch Methotrexat hatten viel gebracht. Minimale Therapieeffekte sprachen nicht nur gegen die jeweilige Substanz, sondern auch gegen die des Versuch zugrunde liegende Basisthese. Die Ergebnisse werden aber tendenziös umgedreht. Die Immuntherapie sei durch die schwach positiven Resultate bestätigt. Die Schwäche beruhe auf Kinderkrankheiten in einem gleichwohl unaufhaltsamen Prozess zu viel wirksameren Stoffen. Keiner kann das zwar wissen, trotzdem klammert sich jeder daran.

"Der Denker", sagt dazu Friedrich Nitzsche, "sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgenworüber Aufschluß zu erhalten: Erfolg und Mißerfolg sind ihm zu allererst Antworten. Sich aber darüber, daß etwas mißrät, ärgern oder gar Reue zu empfinden - das überläßt er denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist" (1911, "Die fröhliche Wissenschaft").

Weil es in der MS-Forschung eben doch um persönliche Eitelkeit geht, sagt Toyka in der Einleitung eines Industrievideos zu Interferon, es sein "unfair", das Ausbleiben eines positiven Effektes auf die Behinderung nach fünf Jahren Behandlung mit Interferon beta 1b zu kritisieren.

Statt die Eingenommenheiten von sich abzulegen, umzudenken und einen neuen theoretischen Ansatz zu suchen, ziehen die Wissenschaftler sich hinter undefinierbare Begriffe zurück. Beim "disease modyfying treatment" der Angelsachsen wird alles ausprobiert, was die Industrie so Neues bringt, Die Deutschen feiern Umtaufe auf "Modulation" in der Überzeugung, damit sei ihre Theorie höher entwickelt als je, da man sich nun alles noch feiner angelegt vorstellen müsse. Hier ein Rezeptor, da ein Antigen, dort ein Zytokin: ein oder einige verstellte Schräubchen im Uhrwerk des Immunsystems (aus unbekannten Gründen nicht zerstörbar durch die Hammerschläge globaler Immunsupression). Die Verwässerung mit "Modulation" läuft ebenso wie völliger Theorieverzicht darauf hinauf, dass es kein Kriterium mehr gibt, aussichtsreiche Medikamente zu definieren und wenig aussichtsreiche zur Seite zu legen. Peter Hartung hält das für "Paradigmenwechsel" und schlägt "Sauerstoffradikalfänger, Stickstoff-Synthase-Inhibitoren und Hemmer des Calciumeinstroms" zum Probieren vor. Aber auch Lipidsenker (Simvastin) oder Antibiotika (Minocyclin) erscheinen "erfolgversprechend". Weiter möchte man es jetzt wieder einmal immunsuppresiv, mit einem Abkömmling des FK 506, Sirolismus, versuchen; und auch noch mit Xaliproden und "einem Derivat von Myriocin".

Das Interferon-beta scheint mit allen diesen nicht verwandt zu sein. Was es eigentlich im Zusammenhang mit MS darstellt und bewirken soll, bleibt unklar. Als Medikament gegen Infektionen des ZNS hat es sich nicht durchgesetzt. Es war eines Tages duch Firma Berlex gentechnisch in genügender Menge herstellbar und auf der Suche nach einer lohnenden Indikation. Bis heute ist nicht sicher, ob Interferon selbst, oder entzündungshemmende Komedikation gegen Nebenwirkungen für seine behauptete Wirksamkeit verantwortlich ist. Seit der Metaanalyse im "Lancet" 2003 gilt das Gegenargument, nur am Anfang wären ja Entzündungshemmer notwendig, nicht mehr. "Interferon" wirkt nur am Anfang. Sollen wir also bei einer chronisch-entzündlichen Erkrankung nicht einfach 3 x 400 mg Ibuprofen am Tag nehmen und Interferon weglassen? Eine praktisch höchst interessante Frage, auf die es von den Firmen Schering, Serono oder Biogen, die die Untersuchungen gemacht haben, natürlich keine Antwort gibt. Sie behalten Daten, die auch gegen ihre Kaufargumente interpretiert werden könnten, lieber für sich.

Als Zukunftsausblick 2002 erreicht uns von Ralf Gold über neue Forschungen folgende Botschaft: "bei der MS ... gab es aus der Würzburger Forschungsgruppe ... Hinweise, dass der ... Faktor CNTF bedeutsam ist. Untersuchungen konnten zeigen, dass bei CNTF-Mangel die MS zwar nicht häufiger auftritt, aber wohl früher beginnt und schwerer verläuft ... Mit der ... Entdeckung eines ersten krankheitsmodulierenden Faktors ergeben sich neue therapeutische Aspekte, die wir und andere in Zukunft intensiv beforschen werden". Ich schlage Ihnen meinerseits vor, sich nicht zu sehr für CNTF (ciliary neurotrophic factor) zu interessieren. Der Hinweis auf sogenannte Bedeutsamkeit ist nichtssagend. Der "therapeutische Aspekt" dürfte darin bestehen, dass man den Faktorenmangel, falls er vorliegt, auszugleichen versucht, falls er funktioniert, und damit eventuell einen milderen Krankheitsverlauf erreicht. Ob Mangelzustände von mancherlei Art, Vitaminmängel etc., die Krankheit nicht ebenfalls früher beginnen und schwerer verlaufen lassen? Die Ursache von MS ist nicht berührt. Die Formel "wir und andere in Zukunft intensiv" soll Betroffene mit der Ausmalung hektischer Aktivität blüffen, kann aber nicht darüber hinweg trösten, dass wieder einmal so gut wie nichts erreicht worden ist.

Konklusion

Wir befinden uns in einer Sackgasse rastloser, aber leider erfolgloser Lösungsvorschläge. Das Problem darf nicht länger sich selbst, d. h. der Selbstgerechtigkeit von Experten und dem Erwebssinn von Geschäftmachern überlassen bleiben; geht es doch für unsere Gesellschaft, die ihre ergebende duldende Haltung aufgeben muss, um sehr viel, für die Kranken und ihre Familien um schlechthin alles.

Wir sollten uns die lähmenden sozialen Bedingungen, in denen derzeit für die Behandlung der multiplen Sklerose vorgeblich geforscht, in Wahrheit Pharma- und Eigenpropaganda gemacht wird, klarmachen, um den Kurs sehenden Auges zu korrigieren. Dazu stelle ich fest:

  1. Medizinisches Grundwissen wird ignoriert.
  2. Eine Gruppe von Dogmatikern hat die Macht, Kritik und dissidente Vorstellungen zu unterdrücken.
  3. Fehlbesetzungen in Selbsthilfegruppen und Fachverbänden führen zu Amtsmissbrauch infolge Interessenkollision und behindern eine Evaluation der Ergebnisse von MS-Forschung.
  4. Erfolgsnachweise werden durch Schönfärberei von Daten und suggestive Formulierungen und Versprechungen ersetzt.
  5. Verkaufsorientierte Forschung fördert die Abhängigkeit der beauftragten Forscher und den Verkauf von Pharmaerzeugnissen, nicht den therapeutischen Fortschritt.
  6. Immunsupression ist gescheitert. Die aktuellen Leitbegriffe "Immunmodulation" und "disease modyfying" sind hohl.

Die moderne Therapieforschung über MS steht im vierten Jahrzehnt großer, nicht eingelöster Versprechungen. Sie legt sich nicht mehr theoretisch fest. Doch Neues fällt ihr nicht ein. Aus ihrer Konzeptlosigkeit steigen Phrasen auf, Illusionen, Chimären, nur keine Lösungen.

gez. Dr. med. Reiner Hesse
Stuttgart & Alencon, den 22.7.2003


Erste Veröffentlichung: 08.10.2003 Hinweise, Anmerkungen, Fragen? © 2003-2005 Oliver Lenz
Letzte Änderung: 27.12.2005 Mail
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