Homepage von Oliver Lenz
Die folgende Geschichte entnahm ich dem Buch "Das Paradies der Bekloppten und Bescheuerten" - Dietmar Wischmeyers Logbuch.
Bloß nicht zur Besinnung kommen
Freizeitstreß
Ganz früher gab's die Arbeit, und wenn nicht gearbeitet wurde, nannte man das Essen oder Schlafen.
Dann erschuf der Gewerkschaftsbund die Freizeit, und der Proletarier mußte nicht
mehr aufe Arbeit saufen, sonder hatte jeden Tag ein paar Stunden extra,
reserviert für sein liebstes Hobby. Heute sind die Schwachmaten dermaßen schnell
breit, daß noch mehr Zeit übrigbleibt, die es zu gestalten gilt.
Und so entstand der Freizeitstreß. Wer diese Form der Lebensbewältigung
so richtig auskosten will, muß nur jede freie Minute seines Lebens mit
unproduktiven Terminen zuscheißen. Simpelste Form des privaten Terrors ist
ein großer Freundeskreis, der nach ständigen Kontakten giert:
Dann ist hier ein Geburtstag, dort eine überflüssige Eheschließung,
oder man trifft sich "nur so". Auch nicht von schlechten Eltern
ist eine Vereinsmitgliedschaft, vorzugsweise bei den Vertretern der
Leibesübung. Dreimal die Woche Training, sonntags Wettkampf, montags geselliges
Beisammensein, Vorstandssitzung: Ruckizucki ist das Leben zugemüllt. Aber auch der
individuell betriebene Sport kann erfolgreich am Kalender nagen,
denn für jede zu verbrauchende Kalorie muß man ja zuvor mit dem Auto
irgendwo hinorgeln. Feste Zeiten im Squash-Center und der
Muckibude, Mountainbike aufs Wagendach und eine Stunde bis
zum Waldrand fahren. Sor vergeht Stund um Stund, und einmal
pro Jahr fragt man sich, wann man das letzte Mal
nichts vorhatte. Bevor die Freizeit erfunden wurde, gab es den
Müßiggang, interessefreies Herumlungern an der Oberfläche
des Planeten. Oft und gerne wurde dabei nachgedacht über Sinn
und Blödsinn des Lebens an sich. Die schärfsten Philosophien, die
ergreifenste Lyrik haben ihren Ursprung im Müßiggang. Der moderne
Bekloppte hat's nicht so mit Nachdenken und Gedichte schreiben.
Er zappelt lieber in der Gegend rum und hat Fun. Lückenlos
greift ein Idiotengehampel in das nächste: 17 Uhr Bowlingbahn,
19 Uhr Cartrennen, 21 Uhr Männergruppe und um 11 Manuela vermöbeln.
Heißa, der Abend ist gerettet, dazwischen lieben jeweils 50
Autobahnkilometer, und jede tiefere Auslotung des Daseins ist erfolgreich
vereitelt. Die hohe Kunst des Freizeitstreß wird aber erst erlangt, wenn alle
Termine mindestens dreifach belegt sind und deren Koordination,
Verschiebung und Absage über Telekommunikate die gesamte Freizeit beansprucht.
Dann hat man's geschafft. Mann kann zu Hause bleiben, virtuell rumhampeln,
und mit etwas Glück bleibt mal eine Minute übrig zum Müßiggang. Und mit
noch mehr Glück denkt man dann, was fürn blödes Schwein man doch ist.