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Die folgende Geschichte entnahm ich dem Buch "Das Paradies der Bekloppten und Bescheuerten" - Dietmar Wischmeyers Logbuch.

DIE GEFESSELTE BRUT

KinderKnast

Wo sind eigentlich die ganzen Kinder geblieben? Sie streunen nicht mehr durch die Straßen, stauen keine Gräben mehr auf, toben nicht mehr auf dem Hinterhof.

Jaha, die vollverkabelten Rangen hocken alle zu Hause vor ihrer Videokonsole und baldowern im Zwischennetz.

Noch schlimmer: Die Frischlinge werden von ihren Eltern in Gefangenschaft gehalten. Das Kind als öffentliches Individuum kommt heute genauswenig vor wie der streunende Hund - beide sind totalverknastet.

Zuweilen sieht man sie in den Gefangenentransportern ihrer Mütter, wenn sie von einer Erziehungsvollzugsanstalt in die ander verlegt werden.

Angeschnallt wie Hannibal Lector, hockt der Klein-Knacki auf dem Rücksitz und starrt blödig aus dem Kombi raus. Ziel des Transports ist der Kindergeburtstag bei MacDonald's. Da gibt's Fröhlichkeit von der Stange ohne Hinterher-Saubermachen.

Später werden alle wieder in die grüne Minna verstaut und dem häuslichen Vollzug überantwortet. Hier hat der Gefangene eine eigene Zelle mit Fernseher, Computer, Handy und und Playmobil-Atomkraftwerk.

Dreimal pro Tag schiebt die Aufsehering Nudeln mit Dosenpampe oder ein Fischstäbchen durch die Luke. Das gefällt dem Zögling so gut, daß er seine Zelle oft erst weit in den Zwanzigern verläßt.

Nicht Studium noch häufig wechselnder Geschlechtsverkehr können den Nachwuchs dazu bewegen, die liebgewordene Gefangenschaft zu beenden.

Warten wir noch zwanzig Jahre, dann werden vergreiste Mütter in Kombiautos durch die Städte fahren, auf dem Rücksitz hockt ein qualliger Dreißigjähriger, angeschnallt mit Bommelmütze auf dem Kopf.

Was soll man auch von einer Gesellschaft erwarten, die die Kindheit in freier Wildbahn abgeschafft hat. Alles ist organisiert, jeder wird betreut: in der Krippe, im Hort, in der pädagogischen Wehrsportgruppe am Nachmittag, auf dem eingezäunten Freigelände mit Rutsche und altem Autoreifen.

Das einzige Abenteuer, das hier lockt, ist der gut getartnte Hundeschiß im Sandhaufen. Huharrrr, bloß nicht anpacken! Am besten sowieso gar nichts anpacken von der unbetreuten Welt da draußen: alles voller Mikroben und Umweltgifte.

Mangels Außenreiz beschäftigt sich das Immunsystem des Welpen nunmehr mit sich selbst: nässende Ekzeme, Asthma, Juckreiz, die ganze Palette selbstzerstörerischer Körperreaktionen bescheren dem Kurzen einen weiteren Betreuungsreigen:

Neurologen, Dermatologen, Psychologen, alle werkeln am Aufzuziehenden rum, und überall fährt ihn die Wörterin mit ihrem Kombi hin: festgezurrt mit Bommelmütze.

So vergeht Jahr um Jahr, und mit zwölf war das Kind noch nicht einmal alleine draußen und hat sich noch nie im Dreck gesuhlt. Über Internet bestellt der sich dann eine Wumme, geht in den Schulknast und erschießt seine Lehrerin.


Erste Veröffentlichung: 30.06.2005 Hinweise, Anmerkungen, Fragen? © 2005 Oliver Lenz
Letzte Änderung: 30.06.2005 Mail oder Gästebuch
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