Aus dem "ND" vom 22.02.2005
Link zum Artikel

Ratgeber Gesund leben
Freizeit

Worte mit Heilkraft: Ich verzeihe Dir

Zum Schutz vor seelischen Verletzungen und Ungerechtigkeiten besitzen wir die Fähigkeit, anderen zu vergeben. Doch offenbar muss sich der Mensch dieser Fähigkeit immer wieder neu bewusst werden, damit die Deutschen nicht zu einem Volk der beleidigten Leberwürste werden.

»Verzeihen ist eine Schwäche«, behauptete etwa Friedrich Nietzsche und Artur Schopenhauer formulierte bissig: »Vergeben und Vergessen heißt: Gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen«. Doch wie passen die nach einer Versöhnung vom Herz fallenden Steine dazu? Warum können Menschen endlich wieder ruhig durchschlafen, wenn ihnen verziehen wurde, und warum fühlen sich andere vital, ausgeglichen und glücklich, nachdem sie selbst einem Menschen wegen einer zugefügten Kränkung vergeben konnten? Phänomene, mit denen sich zunehmend Mediziner, Psychologen und Soziologen wissenschaftlich befassen. In den USA ist aus diesen Bemühungen die »Kampagne für Vergebensforschung« um die Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu und Jimmy Carter hervorgegangen.

46 Studien hat die Vereinigung bislang in Auftrag gegeben und alle haben gezeigt: Verzeihen senkt den Blutdruck, lindert Rückenschmerzen und Depressionen, bewahrt vor chronischen Schmerzen, senkt Übergewicht und Stresshormone wie Kortisol, reduziert Kopfschmerzen und Schwindel, begünstigt die Heilung von Wirbelsäulenproblemen, beseitigt Schlaflosigkeit und kittet so ganz nebenbei zerstrittene Ehen. Nach der Verordnung von positivem Denken und Optimismus sehen amerikanische Ärzte nun im Verzeihen ein neues Allheilmittel. Doch Verzeihen ist nicht leicht. Kränkungen und Verletzungen des Selbstwertgefühles schüren je nach persönlichem Befinden Selbstzweifel oder schreien nach Rache. In beiden Fällen ist man ein Opfer. Diese Rolle ist zwar schmerzhaft, aber auch attraktiv, denn als Opfer muss man keine Verantwortung übernehmen.

Zuträglicher für das Wohlbefinden ist es, erlittenes Unrecht zu verzeihen und Verluste ad acta zu legen. »Wer das nicht kann, zieht wenigstens aus seiner Kränkung einen psychischen Nutzen: Man behält denjenigen am Haken, der einen verletzt und gekränkt hat«, sagt der Psychologe Heiko Ernst. Verzeihen ist Schwerarbeit. Die wenigsten Menschen können das von selbst. Um Verzeihen zu können, und das Vergeben als neue Lebenseinstellung zu verinnerlichen, braucht es Selbsterkenntnis, die zur Selbstakzeptanz führt. Deshalb haben Verzeihensexperten Kurse entwickelt, in denen das Vergeben gelernt werden kann. Dass das funktioniert, hat ebenfalls eine Studie gezeigt. Der Psychologe Frederic Luskin von der Stanford University in Kalifornien hat 259Menschen aus dem Raum San Francisco sechs Mal zu 90-minütigen Sitzungen eingeladen, in denen Verzeihen geübt wurde. Die Teilnehmer fühlten sich alle von irgendjemandem gekränkt oder beleidigt, aber sie hatten keine körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Im Kurs diskutierten sie über Schmerzen, die ihnen zugefügt worden waren, sie hörten Vorträge und führten innere Gespräche mit den Übeltätern.

Den meisten Kursteilnehmern ging es hinterher deutlich besser: 70Prozent gaben an, weniger Schmerz als vorher zu empfinden. 27Prozent hatten auch weniger physische Symptome wie Rücken- oder Kopfschmerzen, Schwindel und Schlaflosigkeit, und 15Prozent gaben an, nicht mehr so emotional auf Stress zu reagieren. Statt Ärger und Kränkung in sich hineinzufressen, ist es also besser zu sagen: Ich verzeihe Dir/Ihnen. Auf keinen Fall aber sollte man dabei mit der Tür ins Haus fallen. »Wer etwas wieder gut machen oder verzeihen, Trennungen überwinden oder einfach alte Kriegsbeile begraben will, sollte sich vor konkreten Schritten Gedanken machen«, rät der Münsteraner Psychologe Steffen Fliegel und empfiehlt »mit offenen Augen, Würde und Selbstachtung an die Situation heranzugehen« und auf Überraschungsaktionen und Überrumpelungsmanöver zu verzichten. »Verzeihen ist ein prosoziales Phänomen, das sich in einer positiven Veränderung der Gedanken, der Emotionen und des Verhaltens eines Opfers gegenüber einem Übeltäter äußert«, erklärt der Duisburger Sozial-Psychologe Hans-Werner Bierhoff. Der Prozess des Verzeihens ist damit quasi ein seelischer Kraftakt, für den man Zeit braucht. Zeit, die man auch dem Anderen zugestehen muss.

Wolfgang Kappler
(ND 22.02.05)