Abgeschrieben aus: Von Jahr zu Jahr - Das Jahrbuch für die Frau 1989, Verlag für die Frau, Leipzig, DDR

Ohne Liebe kein Leben

Seit Jahrtausenden schreiben Dichter vom Glück und von der Macht der Liebe, singt man Lieder von der Sehnsucht nach dem geliebten Menschen, gilt die Liebe als starke Triebkraft des Handelns der Menschen. Die individuelle Geschlechtsliebe ist auch mehr als alle anderen Beziehungen zwischen Mann und Frau Gegenstand der Literatur und Kunst.


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Das "Erlebnis der Liebe" wird davon beeinflußt, daß Emotionen eng mit organischen Abläufen verbunden sind. Gefühle der Liebe wirken sich auf körperliche Vorgänge aus, auf Lebenskraft, Dynamik, Wohlbefinden einerseits, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit u. a. m. andererseits.

Zwischen den Gefühlen und Bedürfnissen wie Zuwendung, Verständnis, Hilfe, Sorge, Solidarität, Zärtlichkeit, Sexualität und Erotik (Fortpflanzung, Lustgewinn) besteht ein enger Zusammenhang. Gelingt es einem Partner, diese und andere Bedürfnisse des geliebten Menschen zu befriedigen, stellt sich Glücksgefühl ein. Am vollkommensten ist es bei Gegenseitigkeit.


Liebe bewirkt, daß das Wohl des geliebten Menschen zum stärkeren Handlungsantrieb wird als das eigene Wohlergehen. Den geliebten Menschen möchte man glücklich machen. Dieses Ziel wird zum eigenen Bedürfnis, dessen Realisierung zum eigenen Glück. Je besser die Partner die Wünsche, Vorstellungen, Interessen des anderen kennen und sich achten, umso besser können sie darauf eingehen. Partner, die sich lieben, empfinden Glücksgefühl. "Es gibt nichts Besseres, wenn man sich liebt, all geben, alles, alles, das Leben, den Gedanken, den Körper, alles, was man hat; und zu fühlen, daß man gibt, und alles aufs Spiel setzen, um immer noch mehr geben zu können.", schrieb Guy de Maupassant. Wo in einer Partnerschaft die Bereitschaft und das Bedürfnis fehlen, auf die Wünsche des anderen einzugehen, muß man Zweifel an der Tiefe der Liebe und/oder Mängel in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung vermuten.


Spätestens hier wird deutlich, wie sehr die Gestaltung glücklicher Liebesbeziehungen, die über einen kurzlebigen Rauschzustand des Verliebtseins hinausgehen, von der gesamten Persönlichkeit, von den moralischen Eigenschaften eines Menschen und seinen Fähigkeiten abhängig ist. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Liebfähigkeit eines Menschen. Is sie jedem gegeben?

Liebe weckt den Wunsch nach umfassender Gemeinsamkeit, Austausch und Kontakt mit dem geliebten Menschen. In ihr verschmilzt das Individuum mit einem gleichberechtigten Partner zu einer höheren Einheit und entwickelt sich durch die Gemeinschaft weiter. Häufig taucht die Frage auf, ob die Partner dabei nicht zu sehr ihre Individualität aufgeben. Oberflächlich betrachtet, scheint diese Gefahr zu bestehen. Aber eine solche Beurteilung der Gemeinsamkeit trifft nicht den Kern dieses Aspektes der Geschlechterliebe. Es steckt dahinter vielmehr ein Standpunkt, nach dem erst ein vereinsamter einzelner sein eigenes "Ich" voll entfalten könne. Das Leben jedoch beweist das Gegenteil. Beglückung und Bereicherung finden wir im Zusammenwirken mit anderen Menschen. Der geliebte Mensch nimmt dabei einen besonderen Platz ein. Eine Liebesbeziehung kann nur dann zu tiefer Erfüllung führen, wenn in ihr keiner von beiden in seiner Entwicklung gehemmt wird. Solche Liebes- bzw. Partnerbeziehungen können aber nur dort in vollem Maße gedeihen, wo gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen wurden, unter denen es allen Schichten der Bevölkerung möglich ist, frei von ökonomischen Zwängen und Standesschranken die Ehe aus Liebe einzugehen und zu führen, und wo Mann und Frau gleichberechtigt sind.

Ein weiteres Wesensmerkmal der Liebe zwischen Mann und Frau ist ihr sexuelles Moment. Sexualität verleiht der Liebesbeziehung eine besondere Dynamik. Sie darf nicht mit der Liebe gleichgesetzt werden. Beide können ja bekanntermaßen auch getrennt vorkommen. Richten sich aber das Sexualbedürfnis und die Liebe auf ein und denselben Menschen, dann ist die Liebe bei Gegenseitigkeit am dauerhaftesten. Jede Spaltung von Sexus und Eros ist der Liebe wie der Sexualität abträglich. Häufig werden die sexuellen Bedürfnisse der Frau erst von einem bestimmten Mann wachgerufen, mit dem sie durch Liebe verbunden ist. Erfüllte Liebe hat Gegenseitigkeit, also Geben und Nehmen, zur Voraussetzung, und liebende Partner verspüren das Bedürfnis nach Geben und Nehmen in geistiger, emotionaler und sexueller Hinsicht.


Obgleich die Liebe eine allgemein psychische Erscheinung ist, die die Menschen vor Jahrtausenden ebenso erfaßt hat wir heute, hängen die Eigenschaften und Verhaltensweisen des Partners, der Liebe bewirkt, weitgehend von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. So wandelt sich das Anspruchsniveau und die Liebesideale der Frau mit der Verwirklichung ihrer Gleichberechtigung bei uns ganz wesentlich. Für die gegenseitige Liebe bedeutet die Gleichberechtigung von Mann und Frau, daß sie einander unterstützen, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. In der Ehe sollen alle Angelegenheiten ihres gemeinsamen Lebens in beiderseitigen Mitspracherecht und Einverständnis geregelt werden. Der Mann ist angehalten, sich in der Ehe so zu verhalten, daß die Frau ihre berufliche Entwicklung und ihr gesellschaftliches Engagement mit der Mutterschaft vereinbaren kann. Liebe unter den gesellschaftlichen Verhätltnissen der Gleichberechtigung bedeutet auch, daß die Frau das gleiche Recht auf eine ihrer Individualität gemäße Lebensgestaltung hat, und sie in den sexuellen Beziehungen das gleiche Recht auf Beglückung besitzt wie der Mann.


Verschiedentlich wird die Meinung geäußert, die lebenslang währende Liebe sei eher die Ausnahme als die Regel und auf die relativ hohe Zahl unglücklicher Ehen und Scheidungen verwiesen. Wenn wir von Liebe zwischen Mann und Frau schreiben und dabei vor allem an Ehe und Familie denken, dann nicht aus Ehrfurcht vor der Tradition. Es ist durchaus denkbar, daß die heute juristische geschützte Form der Ehe und Familie unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen durch andere Formen der Geschlechterbeziehungen und der Familienstruktur abgelöst wird. Unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen - das ist nachgewiesen - ist die dauerhaft Liebe in einer Familiengemeinschaft nach wie vor der höchste Lebenswert von Männern und Frauen.


Entnommen aus: Barbara Bertram, Walter Friedrich, Otmar Kabat vel Job: Adam und Eva heute, Verlag für die Frau, Leipzig 1988