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Statistik: Das Bayessche Theorem -- Wie sich Chancen verändern

Geschrieben von Oliver Lenz am 04. August 2005 13:15:41:

In Ergänzung zu meinem ,,Weinladenbeispiel`` reiche ich hier nach, wie und warum sich unterschiedliche Einschätzungen einer Wahrscheinlichkeit im Licht neuer Daten annähern.

Person A ging a priori (von vorneherein) von 10% Wahrscheinlichkeit dafür aus, daß der neue Weinladen ein ,,guter Weinladen`` ist.

In ,,Chancen`` ausgedrückt: $1:9$, denn A nimmt an, daß auf einen guten Weinladen neun schlechte kommen.

Eine faire Wette würde für A so aussehen: ,,Ich setzte 9 Euro darauf, daß dies ein schlechter Weinladen ist. Setzt jemand 1 Euro dagegen?``

Auf 10 Wetten erwartet er 9 schlechte Weinläden und wird $9x1 Euro = 9 Euro$ gewinnen. Einer von den 10 Weinläden (10%) wird gut sein, dann verliert er 9 Euro. Somit verliert und gewinnt er im Durchschnitt gleichviel und die von ihm angebotene Wette ist aus seiner Sicht fair.

Jetzt kaufen sich A und B im Laden eine Flasche Wein, und der Wein ist sauer.

A ändert seine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, daß er es mit einem schlechten Weinladen zu tun hat, von 90% auf 99,56% (Rechengang im anderen Beitrag).

In ,,Chancen`` ausgedrückt, von $1:9$ auf $0,44:99,56$.

Eine faire Wette würde jetzt für A so aussehen: ,,Ich setzte 99,56 Euro darauf, daß dies ein schlechter Weinladen ist. Setzt jemand auch nur 44 ct dagegen?``

Die ,,Chance`` ändert sich um den Faktor


\begin{displaymath}\frac{\frac{1}{9} }{\frac{0,44}{99,56}} \approx 25\end{displaymath}

Diesen Faktor ,,25`` bitte merken!

Jetzt ,,B``:

B ging a priori von 95% Wahrscheinlichkeit davon aus, daß der neue Weinladen ein guter Weinladen ist.

In ,,Chancen`` ausgedrückt: $95:5$, denn B nimmt an, daß auf 95 gute Weinläden nur fünf schlechte kommen.

Für B wäre demzufolgd dies eine faire Wette: ,,Ich setze 95 Euro darauf, daß dieser Laden ein schlechter Weinladen ist. Setzt jemand 5 Euro dagegen?``

B erwartet, daß er auf 100 Wetten 5 schlechte Weinläden vorfindet und daß er $5x95 Euro = 475 Euro$ verlieren wird. 95 von den 100 getesten Weinläden (95%) werden gut sein, dann gewinnt er je 5 Euro. $95x5 Euro = 475 Euro$. Somit verliert und gewinnt er gleichviel und die von ihm angebotene Wette ist aus seiner Sicht fair.

Jetzt nimmt auch B die saure Flasche Wein aus diesem Laden zur Kenntnis und ändert seine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, daß er es im konkreten Fall mit einem schlechten Weinladen zu tun hat, von 5% auf (gerundet) 56,82%. (Rechengang wieder wie im Posting.)

In ,,Chancen`` ausgedrückt: Von $5:95$ auf $43,18:56,82$.

Eine faire Wette würde jetzt für B so aussehen: ,,Ich setzte 56,82 Euro darauf, daß ausgerechnet dies ein schlechter Weinladen ist. Setzt jemand 43,18 Euro dagegen?``

Jetzt kommt der Witz! Die ,,Chance`` ändert sich um den Faktor

\begin{displaymath}\frac{\frac{95}{5}}{\frac{43,18}{56,82}} \approx 25\end{displaymath}

Diesen Faktor ,,25`` kennen wir doch!? (Kleine Abweichungen beruhen auf Rundungsungenauigkeiten. Exakt ausgerechnet hat er denselben Wert.)

Ja und ja und ja!

Und das muß ja auch so sein! A und B bekommen dieselben neuen Daten zu Gesicht! (Hier: Die saure Flasche Wein.) Beide ändern vernünftigerweise ihre Einschätzung der Chancen um denselben Faktor!!

Der Faktor heißt übrigens ,,likelihood ratio``.

Was ist die Konsequenz?

A und B haben unterschiedliche Ausgangswerte. (90% vs. 5% Wahrscheinlichkeit dafür, daß der neue Laden ein schlechter Weinladen ist.)

Mit jeder neuen Beobachtung (Daten), verändern beide die Einschätzung der Chancen um den selben Faktor! Und wenn wir dieses ,,Spiel`` jetzt öfters spielen (immer weitere neue Daten in Anschlag bringen), dann wird sich die Einschätzung der Chancen von A und B immer weiter annähern und schlußendlich praktisch gleich sein.

A und B werden sich also in ihrer Überzeugung annähern!

Und jetzt der praktische Bezug zur MS:

Arzt A und Arzt B haben eine unterschiedliche Überzeugung davon, daß Medikament X wirksam ist. (Vielleicht 10% zu 95% ;-).

Nehmen wir an, daß beide von einer neuen Studie erfahren, die für die Wirksamkeit von X spricht. A und B ändern jeweils ihre Einschätzung der ,,Chancen`` (nicht der Wahrscheinlichkeiten!) um den gleichen Faktor.

Jetzt kann die Überzeugung, wie im Weinbeispiel, noch immer auseinanderliegen, aber sie hat sich doch angenähert.

Und wenn noch eine weitere Studie veröffentlicht wird, dann werden sich A und B noch weiter annähern. (Wieder ändert sich ja die Einschätzung der Chancen um den gleichen Faktor.)

Der Abstand der Einschätzung von A und B wird mit jeder neuen Studie immer kleiner und am Ende praktisch beeinander liegen - wenn nur ausreichend neue Daten zur Verfügung stehen!

Wenn es aber keine neuen Daten gibt, dann können sich A und B bis zum jüngsten Tag streiten und doch keine Einigung erzielen.

A und B habe nunmal unterschiedliche Erfahrungen gemacht und schätzen mit demselben Fug und Recht die Sachlage a priori verschieden ein. Da hilft eine einzelne Beobachtung/Studie wenig - wenn die Grundeinschätzung von A und B sich deutlich unterscheidet. Und nur mit diesen Zusatzangaben kann aus den Daten (saure Flasche Wein, positiver AIDS-test, positives Studienergebnis) eine Wahrscheinlichkeit dafür ermittelt werden, ob der Laden schlecht ist, ob AIDS vorliegt, oder ob das neue Medikament wirksam ist.


Erste Veröffentlichung: 04.08.2005 Hinweise, Anmerkungen, Fragen? © 2005-2006 Oliver Lenz
Letzte Änderung: 03.02.2006 Kontakt oder Gästebuch
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