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Statistik: Mündige Patienten?!

Geschrieben von Oliver Lenz am 12. März 2004 22:24:51:

Hi,
anbei obiger Artikel aus dem ND vom 10.03. Paßt wunderbar zu unseren Diskussionen. Zum von mir dringend empfohlenen Weiterlesen gibt es dann einen Link. Einem jeden Patienten und jedem Mediziner vor jeder Therapiefestlegung ins Stammbuch geschrieben:

http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=50038&IDC=3&DB=O2P


10.03.04

Die Illusion vom mündigen Patienten

Gerd Gigerenzer will die Deutschen von Expertengläubigkeit und Zahlenblindheit befreien

Egal, ob man mit der Arbeitslosenstatistik, dem Wetterbericht oder einer schweren Krankheit konfrontiert ist, immer spielen Zahlen eine Rolle, meistens in Prozenten ausgedrückt. Doch verstehen wir sie richtig? Nein, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seine Untersuchungen bescheinigen Politikern, Behörden, Ärzten und Patienten eine erschreckende Zahlenblindheit. Aus dieser entstehen Unwissenheit, Angst und Manipulation, meint der Forscher und will das mangelnde Zahlenverständnis in Einsicht und Mündigkeit verwandeln. Sein Leitspruch stammt von Benjamin Franklin: "...in dieser Welt ist nichts gewiss, außer dem Tod und den Steuern." Mit Prof. Gerd Gigerenzer (56), der in Konstanz, Salzburg und Chicago lehrte und forschte, und derzeit den Forschungsbereich Adaptives Verhalten und Kognition leitet, sprach Silvia Ottow.

ND: In einer Zeit, in der man wachsendes Gesundheitsbewusstsein feststellt und viel von Prävention spricht, sagen Sie, Früherkennungs-Test sind nicht sinnvoll?

Gigerenzer: Beim Thema Screening (Reihenuntersuchung) oder Früherkennung wird den Menschen ja in unserer Demokratie nicht mitgeteilt, was die Vor- und Nachteile dieser Tests sind, sondern sie werden emotional in eine bestimmte Stimmung versetzt. Man sagt ihnen entweder, dass sie teilnehmen müssen, weil es ihre Verantwortung ist, oder dass sie nicht teilnehmen sollen, weil der Test oder die betreffende Therapie nichts bringen wie jetzt bei der Hormonersatztherapie. Man behandelt sie wie Kinder. Das ist der Skandal der Gesundheitspolitik in unserer Gesellschaft. Ich möchte den Menschen Werkzeuge geben, mit denen sie selbst verstehen können, was für sie von Nutzen ist und was ihnen schaden kann. Mir geht es darum, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht mehr einem Vater-Kind-Verhältnis entspricht. Dass man den Bürger mündig macht, statt ihn zu gängeln und ihn permanent in Angst und Schrecken zu versetzen.

Wie wollen Sie das machen?

Der Informationsfluss in unserer Gesellschaft ist erstaunlich dünn. Die meisten der Frauen, die wir untersucht haben, wissen beispielsweise so gut wie nichts über die elementarsten Fakten des Mammographie-Screenings, sie haben lediglich massive Illusionen. Vor einem Screening sollte sich eine Frau zwei Fragen stellen: Was nutzt es und was schadet es womöglich? Wir wissen: Von jeweils 1000 Frauen ab 40 Jahren, die an einem Screening teilnehmen, stirbt innerhalb von zehn Jahren etwa eine weniger an Brustkrebs, als von 1000 Frauen, die nicht teilnehmen.

Das hört sich nicht eben viel an.

Nein, aber das müsste man den Frauen mitteilen. Stattdessen sagt man ihnen, die Teilnahme an einer solchen Untersuchung reduziert die Sterblichkeit an Brustkrebs um 25 Prozent.

Und das stimmt nicht?

Diese Zahlen führen die Frauen systematisch in die Irre. Sie denken doch: 25 Prozent das ist viel! Aber bei Prozenten muss man sich immer die Frage stellen: 25 Prozent wovon? Die Studien haben gezeigt: Von 1000 Frauen, die nicht am Screening teilnehmen, sterben etwa vier innerhalb von zehn Jahren an Brustkrebs. Und von 1000 Frauen, die teilnehmen, sind es drei. Der Unterschied zwischen vier und drei das sind diese 25 Prozent.

Der gesunde Menschenverstand sagt eigentlich, da müsste eine Frau nicht unbedingt zum Brustkrebs-Screening gehen.

Jede Frau sollte dies selbst beurteilen können. Die Leute müssen ganz einfach Unterscheidungen lernen. Es wird meistens gesagt, der Nutzen sei, dass Krebs früh erkannt wird. Das ist noch kein Nutzen. Der Nutzen wäre da, wenn man etwas gegen den Krebs tun könnte, die durch ihn bedingte Sterblichkeit reduzieren könnte. Dieselben Untersuchungen zeigen aber, dass bisher kein Unterschied bei der Sterblichkeit nachgewiesen werden konnte. Also müssen wir davon ausgehen, dass Screenings das Risiko zu sterben nicht verringern, sondern nur das Risiko, an Brustkrebs zu sterben.

Welche Schäden können durch eine Mammographie entstehen?

Bei regelmäßiger Teilnahme am Mammographie-Screening erhält etwa die Hälfte der Frauen einen positiven Bescheid, obwohl sie gar keinen Krebs hat. Das nennt man falsch-positives Ergebnis. Diese Tests sind ja nicht so gut. Die möglichen Folgen sind emotionale Destabilisierung, Angst und Biopsien, die dann zeigen werden, dass da nichts war. Den Frauen in Deutschland wird nicht gesagt, dass die meisten positiven Screening-Mammogramme falsch sind. Das ist unverantwortlich. Wenn zehn Frauen zu ihrem ersten Screening gehen und positiv getestet werden, hat nur eine Brustkrebs! Neun haben nichts, das könnte man mitteilen. Der zweite mögliche Schaden betrifft Frauen, die wirklich Brustkrebs haben, aber eine Form, die sie während ihrer Lebenszeit nie bemerken werden. Bei Männern, die Prostatakrebs haben, ist es noch krasser: Etwa 85 Prozent von ihnen sterben mit dem Krebs, nicht durch den Krebs; sie bemerken ihn gar nicht. Und bei diesen entsteht großer Schaden. Die hätten ihr Leben ruhig verbringen können. Aber nun werden sie verschiedene Stadien des Leidens durchlaufen und sich unterschiedlicher Arten von Operationen unterziehen. Sie sind vielleicht noch der Auffassung, ihr Leben sei gerettet worden, ohne zu wissen, dass ihre Krankheit womöglich nie ausgebrochen wäre. Das Gleiche gilt für einen Teil der Frauen, deren Brustkrebs beim Screening entdeckt wird. Der dritte mögliche Schaden ist der einzige weithin bekannte in Deutschland: Eine gewisse Gefahr, dass durch die Strahlen selbst Brustkrebs erzeugt wird. Das passiert vielleicht bei einer von 10000 Frauen.

Warum teilt man die Fakten nicht mit?

Ein Hauptgrund dafür ist die Zahlenblindheit vieler Ärzte und Behörden. Unser Institut hat klar dokumentiert, dass sie bei der Mehrzahl der Ärzte in Deutschland vorliegt. 80 bis 90 Prozent von ihnen verstehen die Zahlen selbst nicht. Ein weiterer Grund besteht darin, dass unmündige Patienten oft leichter zu verängstigen und bequemer sind. Es ist wohl in unserem Land eine Mischung von beidem: Manipulierung und Zahlenblindheit.

Warum wird manipuliert?

Die Pharmaindustrie und Fachärzte haben ein Interesse daran, bestimmte Medikamente und Behandlungen zu verkaufen. Das ist soweit legitim. Aber dann möchte man natürlich, wenn man die Wahl hat, den Nutzen des Produkts in möglichst beeindruckenden Zahlen angeben, das sind die relativen Prozentzahlen, wie die erwähnte 25-prozentige Reduzierung der Brustkrebs-Sterblichkeit. Es geht an die Grenze des Juristischen, wenn beispielsweise in einer Aufklärungsbroschüre von Ärzten der Vorteil einer Behandlung in relativen Risiken dargestellt wird, das sind die großen Zahlen und der Nachteil im nächsten Satz in absoluten Risiken, das sind die kleinen Zahlen. Das ist ganz klar gezielte Manipulierung. Auf einem Flugblatt deutscher Gynäkologen über die Hormonersatztherapie wurde beispielsweise so getan, als wolle man die Frauen aufklären. Es wurde ein Vorteil der Therapie beschrieben, nämlich die Reduktion der Gefahr an Darmkrebs zu erkranken, und ein Nachteil, die Erhöhung der Gefahr, an Brustkrebs zu erkranken. Der Nachteil wurde in absoluten Risiken dargestellt, weil dies eine kleine Zahl ist, während der Vorteil in relativen Zahlen dargestellt wurde, weil dies eine große Zahl ist. Steffi Kurzenhäuser vom Max-Planck-Institut hat deutsche Broschüren über Mammographie analysiert. In der Mehrzahl der Broschüren finden Frauen kaum Informationen über möglichen Nutzen und Schaden, und bekannte Zahlen enthält man ihnen vor.

Aber wollen die Patienten die Entscheidung wirklich allein treffen? Erwarten sie nicht, dass der Arzt ihnen sagt, was sie machen sollen?

Besonders in Deutschland tun sie das. In der Schweiz oder in England ist das nicht unbedingt so. Auch in der ehemaligen DDR hatte man ein Gesundheitssystem, das einen vollständig versorgt hat, wo man selbst nicht nachdenken brauchte, ob eine Behandlung sinnvoll ist oder nicht. Wir haben immer noch ein System, das uns wie kleine Kinder behandelt. Man erzeugt Ängste und unmündige Patienten.

Sie geben den Patienten den Rat, in Büchern nachzulesen, im Internet nachzugucken, sich selber sachkundig zu machen. Gerade im Internet sind die Informationen so unzuverlässig wie nirgendwo anders. Fachbücher sind für Otto Normalverbraucher auch schwierig zu verstehen. Die Ärzte sind manchmal selbst nicht sachkundig. Ist das wirklich ein realistischer Rat, den Sie da geben?

Ich denke, er ist realistisch. Das ist ja nicht nur ein Problem des Patienten, sondern wir leben in einer Gesellschaft, in der wir es nicht gelernt haben, mit Unsicherheiten und Risiken umzugehen und darüber nachzudenken, statt uns emotional leiten zu lassen. Wir müssen unsere ganze Gesellschaft umstrukturieren. Unsere Kinder lernen in der Schule Algebra, Trigonometrie und Geometrie, aber sie lernen wenig über jenen Teil der Mathematik, der für das ganze restliche Leben am wichtigsten ist: statistisches Denken. Viele Menschen haben Vorurteile gegen Zahlen, stellen Sie sich das mal vor! Wie Vorurteile gegen Lesen und Buchstaben. Das gibt es alles noch. Auch bei Ärzten! Viele Patienten haben nicht gelernt, welche Fragen man überhaupt stellt. Nämlich: Was bitte ist der Nutzen in verständlichen Worten? Und was ist der mögliche Schaden? Sie müssen ja kein medizinischer Experte sein, um diese beiden Fragen zu stellen. Und sie müssen auch kein medizinischer Experte sein um zu sagen, wenn sie jetzt so eine Zahl an den Kopf geworfen bekommen wie 25 Prozent Risikoreduktion: Erklären Sie mir das mal verständlich in konkreten Personen. Was passiert, wenn 100 Leute wie ich das Medikament nehmen und 100 Leute nicht? Und bitte keine Prozente! Das kann man jedem Patienten beibringen. Ich würde mir wünschen, dass eine Zeitung oder ein anderes Medium den Mut zu einer Kolumne mit dem Titel hätte: So werden Sie täglich verwirrt! Schließlich geht es bei diesem Problem um Größenordnungen von Leben und Tod. Ob ein Mann auf Grund eines Krebsbefundes bei der Früherkennung eine Operation an der Prostata machen lässt, obgleich er keine Schmerzen hat, ist eine lebenswichtige Entscheidung.

Was fangen Sie an mit dem Wissen, das Sie jetzt haben?

Ich arbeite mit Ärztekammern zusammen und schreibe populärwissenschaftliche Bücher für den Menschen "auf der Straße". Die bringen mir keine wissenschaftlichen Lorbeeren, aber ich versuche damit, den Menschen etwas zurückzugeben. Die Max-Planck-Gesellschaft wird aus öffentlichen Geldern finanziert. 90 Prozent kommen vom Bund und von den Ländern, das heißt vom Steuerzahler. Ich habe gerade erfahren, dass 500 Chirurgen der Royal Society of London eine Kopie der englischen Ausgabe meines Buches bestellt haben. Es bewegt sich etwas. Es wird jedoch Zeit, dass auch die deutsche Gesundheitspolitik ihr zentrales Problem erkennt: Millionen unmündiger Patienten und Tausende von zahlenblinden Ärzten.

Wie halten Sie es mit der Prävention?

Für mich als Mann stellt sich natürlich die Frage, ob ich an der Prostatakrebsfrüherkennung teilnehme. Nach den vorliegenden Studien gibt es keinen Beweis dafür, dass die Teilnahme an PSA-Tests die Sterblichkeit reduziert, aber es besteht ein erwiesenes Risiko für Schäden durch Folgebehandlungen nach positiven Tests. Also sehe ich keinen vernünftigen Grund, warum ich daran teilnehmen soll. Aber ich würde das keinem Mann vorschreiben. Es kann ja sein, dass ein anderer den Zustand seines Körpers genau kennen möchte und dafür die Risiken in Kauf nimmt. Jeder Mensch sollte die Freiheit und den Mut haben, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen, statt sich von Panik und Angst treiben zu lassen.

Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis, Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken, Berliner Taschenbuchverlag, Aus dem Amerikanischen von Michael Zillgitt, Pb, 406 Schwarz., 10,50 Euro


Erste Veröffentlichung: 2004 Hinweise, Anmerkungen, Fragen? © 2004-2006 Oliver Lenz
Letzte Änderung: 20.08.2006 Kontakt oder Gästebuch
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