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Statistik: Das Will-Rogers-Phänomen bei der MS

Geschrieben von Oliver Lenz am 26. Februar 2004 20:29:46:

> Warum wird die Erfahrung vieler Neurologen,
> daß die Patienten heute bessere Verläufe
> haben als vor 20 oder 30 Jahren negiert?

OK, denken wir darüber nach: (Alles folgende sind Phantasieangaben!)


Ich versetze mich in das Jahr 1984 und bin Neurologe.

Zu mir kommen Patienten mit dem Verdacht auf MS. Ich unterscheide zwei Gruppen:

Ich bemerke:

Jetzt schreiben wir 2004 und ich bin immer noch Neurologe. Mittlerweile gibt es die Prophylaxe mit Beta-Interferonen.

Zu mir kommen noch immer Patienten mit MS-Verdacht. Nicht mehr und nicht weniger als früher. Und ich unterscheide noch immer diese beiden Gruppen.

Ich bemerke jetzt:

Ein schlagender Beweis des medizinischen Fortschritts? Offensichtlich! Statt im Durchschnitt nach vier Jahren landen MSler erst nach sechs Jahren im Rollstuhl!

Und folgende Trostworte richte ich dann auch an jeden Frischdiagnostizierten: "Seien Sie nicht verzweifelt. Heute gibt es wirksame Medikamente. Bei keiner anderen Krankheit hat sich in den letzten 15 Jahren soviel getan, wie bei der MS!"

Nun, sonnen wir uns nicht zu früh im Erfolg. Wir überlegen weiter:


Gehen wir zurück in das Jahr 1984.

Genaugenommen besteht ja die untersuchte Population sogar aus drei Gruppen.

  1. Die Gruppe mit sicherer MS. Diese Leute sind, wie erwähnt, im Durchschnitt nach vier Jahren auf den Rollstuhl angewiesen.
  2. Eine Gruppe, mit geringgradiger MS. Diese kann 1984 noch nicht eindeutig diagnostiziert werden (daher werden diese Leute der Gruppe mit fraglicher MS zugeordnet). Nehmen wir mal an, daß diese Leute im Durchschnitt nach acht Jahren die Gehfähigkeit verlieren.
  3. Eine Gruppe mit fraglicher MS, die auch mit der verbesserten Diagnostik von 2004 fraglich bleibt. Diese Patienten mögen erst nach 16 Jahren rollstuhlabhängig werden.

Der Einfachheit halber sollen alle drei Gruppen gleichgroß sein.

Wir stellen fest, daß die beiden "fraglichen" Gruppen zusammengerechnet, im Durchschnitt nach 12 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen sind: (8+16)/2 = 12, so, wie oben angeführt.


Nun gehen wir in das Jahr 2004:

Es gibt noch immer das Drittel, die schon 1984 sicher diagnostiziert worden wären. Aber, dank der verbesserten Diagnostik, zähle ich guten Gewissens die Gruppe mit der geringgradigen MS zur Gruppe mit "sicherer MS" hinzu.

Und jetzt passiert das Wunder! Patienten, die 2004 die Diagnose MS bekommen, werden im Durchschnitt erst nach (4+8)/2 = 6 Jahren rollstuhlabhängig. Ein Gewinn an Lebenqualität von zwei Jahren! Ein Zeitgewinn von 50%!

Und wie sieht es mit den Patienten mit fraglicher MS aus? Diese verlieren erst nach 16 Jahren ihre Gehfähigkeit! Statt vorher nach 12! Ebenfalls ein Zeitgewinn von 50%!


Wie gesagt, bis jetzt hat die Medikamentation noch gar keine Rolle gespielt. Die Prognose des einzelnen Patienten hat sich gar nicht geändert! Nichts hat sich geändert!

Nur die Diagnostik ist besser geworden!

Und, was ganz und gar beunruhigend ist: Dieses Phänomen wirkt selbst dann, wenn sich die Therapie verschlechtert hat!

Nehmen wir an, daß aufgrund einer schlechteren Therapie, unsere 1. Gruppe nur noch drei Jahre laufen kann, die 2. Gruppe nur noch sechs Jahre und die 3. Gruppe nur noch zwölf Jahre. (Sich also die Zeit bis zum Rollstuhl im Vergleich zu 1984 um jeweils ein Viertel verringert hat.)

Selbst dann zeigt die Rechnung, daß frischdiagnostizierte MSler im Durchschnitt erst nach (3+6)/2 = 4,5 Jahren nicht mehr laufen können - ein Zugewinn von 12%. Und die "fraglichen" MSler haben sich nicht verschlechtert.


Anmerkung: Das Beispiel ist von mir, daß beschriebene "Will-Rogers-Phänomen" habe ich dem Buch "Der Schein der Weisen" entnommen.


Erste Veröffentlichung: 2004 Hinweise, Anmerkungen, Fragen? © 2004-2006 Oliver Lenz
Letzte Änderung: 30.01.2006 Kontaktformular
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