Gutachten vom 27.05.15

Aus cvo6
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Dr. med. J.
Freiberuflicher sozialmedizinischer Gutachter (SGB V, XI und XII)

Sozialgericht Potsdam
Rubensstr. 8
14467 Potsdam

Berlin, 27.05.2015

Az.: S 20 SO 40/15 ER

In dem Rechtsstreit der

Herrn Oliver Lenz *15.05.1966
Carl-von-Ossietzky-Str. 6, 14471 Potsdam
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. phil. Falko Drescher
Helene-Lange-Str. 8, 14469 Potsdam

- Antragsteller -

gegen

Landeshauptstadt Potsdam
vertreten durch:
Fachbereich Soziales, Gesundheit und Umwelt
Hegelallee 6-8, 14469 Potsdam

- Antragsgegnerin -

wird das nachfolgende medizinische Sachverständigengutachten erstattet.

Inhaltsverzeichnis

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Das medizinische Sachverständigengutachten stützt sich auf:

Anwesende:

  • SW (angabengem. Pflegefachkraft, Angestellte des Antragstellers)
  • CSE (angabengem. Pflegehelfer, Angestellter des Antragstellers)
  • R. (Sozialarbeiterin Hilfe zur Pflege, Sozialamt Potsdam)

Anmerkung:

Frau R. wurde nach eigenem Bekunden von der Antragsgegnerin delegiert, der Begutachtung beizuwohnen.

Der Unterzeichner teilte den Anwesenden mit, dass es sich um eine in erster Linie medizinische Begutachtung handelt und diese in Gegenwart Dritter, hier insbesondere der Delegierten der Antragsgegnerin, nur dann durchgeführt wird, wenn Herr Lenz dem ausdrücklich zustimmt. Würde Herr Lenz dem nicht zustimmen, insbesondere der Anwesenheit der Delegierten der Antragsgegnerin würde dies eine ordnungsgemäße Begutachtung nicht behindern und auch nicht sonstwie zu seinem Nachteil ausgelegt werden können.

Herr Lenz stimmte der Anwesenheit sämtlicher Dritter ohne Umschweife zu.
Befragung und funktionelle Untersuchung im angezogenen Zustand erfolgten somit im Beisein der Anwesenden, nicht aber die Untersuchung im teilweise unbekleideten Zustand.

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Die detaillierte Vorgeschichte kann als bekannt vorausgesetzt werden.
Im Hinblick auf ein in sich geschlossenes Gutachten seien dennoch hier die für die Beweisfragen relevanten Sachverhalte und das aktuelle Krankheitsbild kurz zusammengefasst dargestellt:

Krankengeschichte:

Bei Herrn Lenz traten 1997 erstmalig neurologische Symptome im Bereich der unteren Extremitäten auf. 2001 wurde die Diagnose einer Multiplen Sklerose gesichert.

Seit ca. 2007 bestand eine zunehmende, seit ca. vier Jahren besteht ausschließlich Rollstuhlabhängigkeit.

Im Verlauf kam es auch zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der oberen Extremitäten. Bis vor einem Jahr habe er noch Besteck benutzen können, mittlerweile könne er sich keine Nahrung mehr selbst zuführen.

Entsprechend des Verlaufs wurde Herrn Lenz 2005 die Pflegestufe 1, 2008 die Pflegestufe 2 und 2013 die Pflegestufe 3 zuerkannt.

Pflege-/versorgungsrelevante Aspekte der Wohnsituation

Herr Lenz bewohnt alleine eine Mietwohnung im 3. OG eines Mehrfamilienhauses (Altbau) ohne Lift. Im Eingangsbereich des Hauses befinden sich zwei Stufen. Die Wohnung verfügt über drei Zimmer, Küche und Bad. Das Bad ist mit einer Standardbadewanne, WC und einem unterfahrbaren Waschbecken ausgestattet. Alle Türen sind mit Rollstuhl durchfahrbar. Es sind keine Türschwellen vorhanden, jedoch sind von der Wohnküche zum Wohnzimmer 2 Stufen abwärts zu bewältigen.

Aktuelle Versorgungssituation/Pflegealltag

Herr Lenz wird nach eigenen Angaben durch private Hilfskräfte rund um die Uhr versorgt. Fünf Pflegekräfte sind fest angestellt, des weiteren verfüge er über einen Pool von 20 Honorarkräften, von denen derzeit jedoch nur etwa sechs in die regelmäßige Versorgung eingebunden seien, die anderen könnten nach Bedarf aktiviert werden.

Frau W. als Pflegefachkraft fungiere quasi als fachliche Leiterin.

Er werde morgens gegen acht Uhr aus dem Bett geholt, je nach Pflegekraft werde dazu der Lifter benutzt. Herr Lenz könne sich aber wegen der Streckspastiken in den Beinen beim Transfer kurz abstützen.

Ansonsten sei eine aktive Mithilfe bei den grundpflegerischen Verrichtungen nicht möglich.

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Berührungen, auch Wasserkontakt, führten zu Streckspastiken überwiegend der Beine. Kälte führe zu Beugespastiken. Auch eine Bettdecke könne Spastiken auslösen. Aus diesem Grund sei auch der Gebrauch einer Wechseldruckmatratze nicht möglich.

Es bestehe keine Inkontinenz, jedoch ein imperativer Harndrang.

Bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme könne er sich tagesformabhängig allenfalls eine auf dem Tisch stehende Tasse zurechtrücken und durch Vornüberbeugen des Kopfes aus einem Trinkhalm trinken.

Ärztliche Versorgung

Hausärztin Frau Dr. B., ...-Str., Potsdam; wird nach Bedarf aufgesucht, macht auch Hausbesuche,

Dr. Albert, MS-Ambulanz, St. Josefs-KH Potsdam, 1x/Jahr

Korrekt ist 1x/Quartal

Medikation:

Vit. D

Heilmittel:

Physiotherapie 4x/Wo., 2x/Hausbesuch, 2x per Praxisbesuch (Hegelallee, Potsdam); Ergotherapie 2x/Wo. in Praxis (Hegelallee, Potsdam)

Hilfsmittel:

Regelmäßig benutzt: Pflegebett mit Weichlagerungsmatratze, Gleitlagerungsmatte, verschiedene Lagerungskissen, zahlreiche Urinflaschen, Stehrollstuhl, Standard-Schieberollstuhl, Aktivrollstuhl, Treppenraupe, Badewannendrehsitz, Toilettensitzerhöhung, Drehscheibe, Patientenlifter

Unregelmäßig benutzt: Einmal-Bettschutzeinlagen, Bettpfanne, Toilettenstuhl (feststehend)

Nicht benutzt: Rollator

Kontakte/Teilhabe am Leben:

Herr Lenz hat vier Kinder.

Die 12-jährige Tochter und der 16-jährige Sohn kommen angabengemäß regelmäßig gemeinsam von Freitag auf Samstag zu Besuch, übernachten dann auch in der Wohnung.

Die anderen Kinder lebten außerhalb Potsdams, es bestehe ebenfalls Kontakt, jedoch unregelmäßig.

Herr Lenz gehe zahlreichen Interessen/Aktivitäten nach: Chorsingen 1x/Wo., Go-Treff 1x/Wo., Go-AG für Kinder in einer Schule 2x/Wo., zudem in mehrwöchigen Abständen an weiteren Treffen und Aktivitäten teil.

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Aktueller Status

Herr Lenz wurde in Tageskleidung im Rollstuhl sitzend angetroffen. Der Allgemeinzustand ist den Umständen entsprechend als gut zu bezeichnen. Größe ca. 180 cm, Gewicht 90 kg.

Die Wohnung ist als ordentlich und sauber zu bezeichnen.

Funktionseinschränkungen:

Orthopädisch und neurologisch:
Keine pflegerelevanten orthopädischen Vorerkrankungen.
Ausgeprägte Rumpfinstabilität, freies Sitzen auf Hocker nur noch Rahmen der Physiotherapie. Muss im Rollstuhl fixiert werden.
Rechter Arm kann gestreckt bis ca. 80° angehoben werden, mit rascher Absinktendenz. Aktive Beugung im Ellenbogengelenk und im Handgelenk nur noch sehr eingeschräkt und schwach möglich, aktive Handöffnung nicht möglich. Hand erreicht nur soeben kurzzeitig das Kinn, nicht Wange, Stirn, oder gar behaarten Kopf.
Händerdruck sehr schwach.
Linke obere Extremität völlig funktionslos.
Untere Extremitäten vollständig gelähmt und einschießenden Spastiken bzw. Verstärkung der Spastik auf taktile und Temperaturreize.
Absolute Steh- und Gehunfähigkeit.

Internistisch und urologisch:
Keine (belangvollen) internistischen Einschränkungen.
Keine Inkontinenz, jedoch imperativer Notdurftdrang.

Seh- und Hörvermögen sind nicht (belangvoll) eingeschränkt.
Es bestehen keine psychomentalen Auffälligkeiten.

Aufgrund der neurologischen Einschränkungen bestehen praktisch keine Ressourcen mehr für eine effiziente Mitwirkung bei grundpflegerischen und hauswirtschaftlichen Verrichtungen. Die Pflege ist erschwert durch das Körpergewicht und die Spastiken. Eine eigenständige Fortbewegung im Rollstuhl ist nicht mehr möglich.
Die formalen Kriterien der Pflegestufe 3+ (Härtefall) gem. SGB XI sind grob überschlägig erfüllt.

Beantwortung der gestellten Fragen

1.) Bett

Herr Lenz verfügt über ein geeignetes Pflegebett mit einer Matratze aus Weichlaggerungsmaterial.

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Eine solche Matratze ist indiziert bei Patienten mit Dekubitusgefährdung, sollte aber nicht bei Patienten verwendet werden, die noch in der Lage sind, eigenständig Lagerungswechsel im Bett vorzunehmen, da das Einsinken des Körpers in die Matratze eigenständige Positionswechsel erschweren oder vollständig behindern würde.

Bei Herrn Lenz ist diese Matratze indiziert. Er wäre auch bei einer anderen Matratze nicht mehr in der Lage, sich eigenständig im Bett umzulagern, so dass so oder so Hilfebedarf bei Lagerungswechseln im Bett besteht. Zudem ist er stark dekubitusgefährdet.

Eine Wechseldruckmatratze käme hier theoretisch ebenfalls in Betracht, jedoch wurde seitens des Antragstellers angegeben, dass bereits geringe taktile Reize zu Spastiken, insbesondere der Beine führen, dies sei auch bei einer ausprobierten Wechseldruckmatratze (durch das wechselseitige Aufblasen der Luftkammern) der Fall gewesen. Dies ist gutachterlich nachvollziehbar.

2.) Pflegezustand

Die Inspektion des Pflegezustands umfasste die Inaugenscheinnahme des vollständig angekleideten Antragstellers sowie - im Rahmen eines assistierten Toilettenganges des Antragstellers - die Inspektion von Genitalbereich, Leistenregion, Gesäß, Brustbereich, Rücken, Axillae als bevorzugte Stellen für Intertrigo (nässende Entzündung der Haut, evtl. mit Pilzbefall in Bereichen in denen Haut auf Haut liegt).

Die Inspektion ergab einen unauffälligen Befund, was in Anbetracht dessen, dass Herr Lenz in erheblichem Maße intertrigogefährdet ist, auf einen sehr guten Pflegezustand schließen lässt.

Dabei ist anzumerken, dass auch eine entzündliche Hautveränderung oder ein Pilzbefall an der einen oder anderen Körperstelle nicht unbedingt auf mangelnde Pflege hätte schließen lassen. Aufgrund der völligen Immobilität bei gleichzeitiger Multiple-Sklerose-assoziierter gestörter Temperatur- und Schweißregulation gelingt es häufig trotz penibelster Pflege nicht, einen Patienten völlig intertrigo- oder frei von Pilzbefall zu halten.

Nochmals in höherem Maße gefährdet sind Patienten, bei denen eine Inkontinenz besteht und die daher mit Windelmaterial versorgt werden müssen, was bei Herrn Lenz jedoch (noch) nicht der Fall ist. Es besteht ein imperativer Notdurftdrang, was bedeutet, dass bei Verspüren des Dranges unmittelbar Interventionsbedarf besteht, um ein Einnässen zu verhindern.

Diese Beweisfrage steht wohl im Zusammenhang der Pflegestation "Herbstzeit", die im Gesprächsvermerk der Antragsgegnerin (S. 711 Ergänzungband) dokumentiert und im Schreiben der Antragsgegnerin vom 02.04.2015 (Seite 34 der Gerichtsakte) angeführt werden.

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Demnach deute eine von Frau Wohnig (Pflegekraft des Antragstellers) mitgeteilte Pilzkrankheit auf eine unzureichende Pflege. Ein halbstündiger gemischter Nachteinsatz zum Drehen, Anreichen von Getränken und Ausscheiden sei (jedoch) nicht als notwendig angesehen worden. Durch den Einsatz einer Wechseldruckmatratze wäre eine nächtliche Betreuung überflüssig.

Diese Aussagen sind in keiner Weise nachvollziehbar.

Abgesehen davon, dass dies ja bedeutet, dass dem Antragsteller die Pflegestufe 3 abgesprochen wird (mangelnder regelmäßiger und dauerhafter nächtlicher Hilfebedarf ist ein absolutes Ausschlusskriterium für die Pflegestufe 3!), macht der Einsatz einer Wechseldruckmatratze aus gängiger pflegewissenschaftlicher Sicht keineswegs Lagerungswechsel überflüssig. Sie ist lediglich Teil der Dekubitusprophylaxe. Ungeachtet dessen muss der Antragsteller aber auch wegen des (hier sogar durch eine Wechseldruckmatratze vermehrten!) Auftretens höchst unangenehmer Spastiken umgelagert werden.

Zudem würden die bei fehlendem Nachteinsatz notwendige Versorgung mit Inkontinenzmaterial zu einer erhöhten Intertrigogefährdung führen, wie oben bereits dargelegt.

Insgesamt ist daher die Aussage, drei Einsätze á vier Stunden seien sinnvoll, praktikabel und ausreichend, völlig unhaltbar. Eine solche Versorgung würde vielmehr innerhalb kürzester Zeit zu massiven Pflegedefiziten und damit gesundheitlichen Schäden führen.

Sehr deutlich.

3.) Pflege, Betreuung, Assistenz

Der Hilfe- und Betreuungsbedarf des Antragsstellers setzt sich zusammen aus

a) Grundpflege gem. SGB-XI-Gutachten
b) Hauswirtschaft
c) darüber hinaus erforderlichen Handreichungen/Hilfestellungen
d) Teilhabe am Leben

Der grundpflegerische Hilfebedarf wurde im SGB-XI-Gutachten vom 12.08.2013 dargestellt.
Der Gutachter gelangte zu einem Zeitbedarf für die Hilfen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität von insgesamt 486 min/Tag sowie für die Hauswirtschaft von 197 min/Tag, und somit zu einer Pflegestufe 3.
Dieses Ergebnis kann grob überschlägig bestätigt werden.

Allerdings wird das Vorliegen eines außergewöhnlich hohen Pflegebedarfs ("Härtefall") im Gutachten verneint mit der Begründung, dass neben der (hier erfüllten) Voraussetzung "Hilfebedarf bei Körperpflege/Ernährung/Mobilität"

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mindestens 6 Stunden/Tag, davon mindestens dreimal in der Nacht" bei Härtefällen auch häusliche Pflege in Form von Sach- oder Kombinationsleitung erbracht werden müsste. Dies sei hier nicht der Fall, da nur Geldleistung in Anspruch genommen werde.

Hier irrt der Gutachter. Richtig ist:
Die formellen Kriterien für die Anerkennung als Härtefall sind erfüllt, auch wenn dies bei Inanspruchnahme reiner Geldleistung zu keiner zusätzlichen Leistung der Pflegeversicherung führt.

ad c)

Bei der Bewertung eines SGB-XI-Gutachtens ist grundsätzlich zu beachten, dass dort nur die gesetzlich definierten Verrichtungen der Grundpflege abgebildet werden bzw. nur gemäß den Richtlinien berücksichtigungsfähig sind. Dies bedeutet, dass bestimmte Verrichtungen nicht berücksichtigt werden, wie z.B. Maniküre/Pediküre, Verlassen/Wiederaufsuchen des Hauses (wenn nicht regelmäßig und dauerhaft mindestens einmal pro Woche erforderlich), aber auch banale Handreichungen wie Nase putzen, Kratzen bei Juckreiz etc.

Hintergrund dafür ist, dass der Gesetzgeber gar nicht die Absicht hatte, den gesamten Hilfebedarf im Gutachten abzubilden, sondern anhand des Katalogs der gesetzlich definierten Verrichtungen einen Hilfebedarf zu bestimmen, aus dem dann gefolgert wird, das insgesamt ein erheblicher, Schwer- oder Schwerstpflegebedürftigkeit vorliegt. Dabei ist zudem zu beachten, dass mit der Pflegeversicherung nicht die Absicht verbunden war, jeglichen pflegerischen udn hauswirtschaftlichen Hilfebedarf zu decken, sonder eien (einkommenunabhängige) Beihilfe zu gewähren.

Somit ist eine Versorgung, die sich einzig auf die im Pflegegutachten abgebildeten Verrichtungen beschränkt, von vornherein inhaltlich unzureichend, abgesehen davon, dass selbst der im Guthaben anerkannte (unterhalb der Lebensrealität liegende) Zeitbedarf auch leistungsmäßig nur anteilig abgedeckt ist.

Anders die Leistungen nach dem SGB XII: Diese müssen - grob gesagt - die vorhandenen Bedarfe in "angemessener" Weise decken bzw. die durch vorrangigen Leistungserbringer (hier gesetzliche Versicherung) hinterlassene Deckungslücke füllen.

ad d)

Der erst 49-jährige Antragsteller steht trotz seiner schwersten Behinderung und der daraus resultierenden Unfähigkeit zur Berufsausübung mitten im Leben.

Er wird in seiner Wohnung regelmäßig von seinen Kindern besucht, die teilweise auch bei ihm übernachten. Er singt regelmäßig wöchentlich in einem Chor, spielt wöchentlich Go und ist 2x/wöchentlich sogar ehrenamtlich tätig, indem er an einer Schule eine Go-AG leitet. Darüber hinaus nimmt er (teilweise regelmäßig monatlich) an weiteren gesellschaftlichen Aktivitäten teil.

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Würdigung der einzelnen Hilfebedarfe

Für den Unterzeichner steht außer Frage, dass Herr Lenz eine lückenlosen, d.h. 24-stündigen Assistenz bedarf.

Dies ergibt sich allein schon daraus, dass er nicht mehr in der Lage ist, banalste Verrichtungen wie Naseputzen oder Verscheuchen einer Mücke selbständig zu tätigen. Zudem sind auch die im SGB-XI-Gutachten dargestellten grundpflegerischen Hilfebedarfe teilweise zeitlich nicht vorhersehbar, hier insbesondere (auch durch einschießende Spastik erforderliche) Positionswechsel sowie die Notdurftverrichtung.

Die Stunden können nicht reduziert werden, etwa durch Einsatz eines Notfallknopfes, Windeln oder eines Rollstuhlhaltesystems. Verzögerungen der erforderlichen Hilfestellungen wie Naseputzen, weil erst Hilfe (von außerhalb) herbeigerufen werden muss, sind unzumutbar. Abgesehen davon sehen die gängigen Hausnotrufverträge ausdrücklich keine pflegerischen Hilfen vor, sondern lediglich Notfälle. Ebenso unzumutbar ist der Einsatz von Windeln bei einer ansonsten nicht inkontinenten und zudem hochgradig intertrigogefährdeten Patienten.

Diesem Assistenzbedarf ordnen sich die sonstigen Einzelbedarfe a)-d) quasi unter: Wie hoch auch immer der grundpflegerische Hilfebedarf gem. SGB-XI-Gutachten, Hauswirtschaft und Teilhabe am Leben sein mag bzw. bewertet wird, ändert dies nichts daran, dass der Antragsteller aus o.e. Gründen einer 24-stündigen Assistenz bedarf.

Es mag für den Träger der Sozialhilfe im Hinblick auf die verschiedenen Leistungsarten (Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe) von Belang sein, welcher Anteil z.B. für eine wie auch immer "angemessene" Teilhabe am Leben aus dem entsprechenden "Topf" ausgereicht wird, für den Antragsteller bzw. die Gesamtsumme kann dies aber kaum von Belang sein.

Wesentlich ist für ihn, aber auch den Träger der Sozialhilfe im Hinblick auf die Kosten, dass die verschiedenen Bedarfe zeitgleich, d.h. durch ein und dieselbe Hilfskraft gedeckt werden können, und nicht etwa, dass der Eingliederungshelfer, der den Antragsteller zu den Veranstaltungen begleitet, nicht in der Lage ist, pflegerische Verrichtungen vorzunehmen, was in einem Bedarf >24 Stunden/Tag resultieren würde.

Folgt man den Angaben des Antragstellers, besteht hier eine optimale, über Jahre gewachsene Assistenz dadurch, dass z.B. die Pflegefachkraft Frau W. mittlerweile selbst Go spielt und bei der Go-AG in der Schule den Kindern beim Brettaufbau behilflich sein kann, Während eine andere Pflegekraft mittlerweile im selben Chor singt, so dass die Einsatzpläne dementsprechend abgestimmt werden können.

Ob bzw. inwieweit der Antragsteller seiner fraglos bestehenden Verpflichtung nachkommt oder nicht, Rechenschaft über die Verwendung seines persönlichen Budgets abzugeben, ist nicht Gegenstand der Beweisfragen.

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Der Unterzeichner gestattet sich allerdings folgende Anmerkung:

  • Da es keine Hinweise gibt, dass die Pflege defizitär ist, ist in Anbetracht des objektivierbaren Assistenzbedarfes des Antragstellers kaum vorstellbar, das dass ausgereichte Budget im wesentlichen Teilen zweckentfremdet verwendet werden kann.
  • Die Höhe eines ausgereichten Budgets von 7000 EUR monatlich ergibt bei einer 24-stündigen Versorgung rein rechnerisch einen Stundenlohn von 9,72 EUR brutto und ist damit bereits allenfalls grenzwertig ausrechend, die teilweise körperlich schweren, aber auch sonst anspruchsvollen Hilfeleistungen angemessen zu vergüten.
  • Eine Versorgung durch einen professionellen Dienstleister wie z.B. Ambulante Dienste e.V. würde etwa 20 EUR/Stunde (bei 24 Stunden = 14.400 EUR/Monat) kosten.

4.) Wohnung/einrichtungstechnische Gegebenheiten

Die Wohnung kann nicht als behindertengerecht bezeichnet werden, da sie im 3. OG gelegen ist, das Haus über keinen Lift verfügt, das Bad nur mit einer Badewanne und nicht behindertengerecht (etwa mit bodengleicher Dusche) ausgestattet ist und zum Wohnraum 2 Stufen zu überwinden sind.

Dies erschwert pflegerische Verrichtungen insofern, dass zur Bewältigung der Treppen die Treppenraupe benutzt werden muß und zum Duschen ein aufwendiger Transfer auf dem Badewannensitz vorgenommen werden muss.

Aus dem unter 3.) Gesagten ergibt sich jedoch, dass dies hier ebenfalls keine Relevanz hat, da der Antragsteller auch in einer vollständig behindertengerechten Wohnung der 24-stündigen Assistenz bedürfen würde und derzeit aus der Wohnsituation keine Pflegedefizite entstanden sind.

5.) Auswirkung der umfangreichen und zeitintensiven Freizeitaktivitäten

Herr Lenz fühlt sich durch seine zahlreichen Aktivitäten nicht nur nach eigenem Empfinden mitten im Leben stehend, er ist es auch. Besonders hervorzuheben ist hier sein (ehrenamtliches) Engagement in der Go-AG für Schulkinder, was sehr geeignet ist für das (berechtigte) Gefühl, der Gesellschaft noch etwas beisteuern zu können.

Es bedarf hier wohl keiner tiefer gehenden wissenschaftlichen Darlegung des Zusammenhangs von psychischem und körperlichem Wohlergehen. Herr Lenz freut sich offenbar über jeden neuen Tag und seine anstehenden Aktivitäten, was ihn dazu motiviert und befähigt, im Rahmen seiner körperlichen Möglichkeiten im Alltag mitzuwirken. Beispielhaft sei hierzu angeführt, dass er sich während der Begutachtung die Handkaffemühle reichen ließ. Während er die Arme nicht mehr wesentlich gegen die Schwerkraft anheben kann, ist er noch in der Lage, den auf

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den Schoß liegenden rechten Arm in der Horizontale zu bewegen und etwa 10 Umdrehungen der Kaffeemühle zu vollbringen, was er sich denn auch nicht nehmen lässt.

Eine Selbstüberforderung, die sich negativ auf das Krankheitsbild auswirken könnte, ist nicht erkennbar.

6.) Zumutbarkeit der stundenweisen Abwesenheit des Assistenten

Diese Frage wurde bereits in den vorangegangenen Beweisfragen verneint: Eine stundenweise Abwesenheit des Assistenten wäre nicht zumutbar. Dadurch würde für den Antragsteller keine Ruhephase entstehen, die dem Gesundheitszustand dienlich wäre, sondern eine Unruhephase wegen absoluter Hilflosigkeit, die dem Gesundheitszustand eher abträglich wäre.

gez. Dr. med. J.

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