Trauerrede: OL

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Leben hat einen Anfang und ein Ende. Dazwischen ist Zeit für das Leben. Einmal und nie wieder. Zumindest aus atheistischer Sicht. Mein Vater war Atheist.

Eine weitere Tatsache: Jeder Zeitpunkt, der denkbar ist, wird erreicht. Egal wie weit weg dieser Zeitpunkt ist. So ist es mit dem Schulabschluß, so ist es mit dem Studienabschluß, so ist es, bis das neugeborene Baby volljährig wird. Genauso ist es, bis wir ein bestimmtes Lebensalter erreichen: 50, 60, 70, 80, usw., wenn wir Glück haben. Und genau so ist es, bis zum Zeitpunkt des Todes. Auch dieser Zeitpunkt wird kommen.

Ich weiß nicht, ob das Horst bewußt war. Ganz sicher wußte er es abstrakt. Es ist aber ein weiter Weg vom abstrakten Wissen zu einer realen Handlung. Woher ich das weiß? Nun, ich kannte meinen Vater 55 Jahre und so anders als ich war Horst nicht.

Horsts Leben

Genug der allgemeinen Worte, jetzt zu Horsts Leben:

Horst Bodo Lampe wurde am 28.11.1936 in Neuruppin geboren. Er war das älteste von drei Geschwistern. Sein Vater war Berufssoldat und zum Zeitpunkt seiner Geburt in Neuruppin stationiert.

In seiner frühen Kindheit zogen sie nach Potsdam-Babelsberg, in die dortige Uferstadt. Die Bombenangriffe auf Potsdam überstanden sie unbeschadet, denn die Uferstadt stellte kein militärisches Ziel dar, wie z.B. der Hauptbahnhof von Potsdam oder die Industriegebiete in Babelsberg. Aber dafür kam die „Potsdamer Konferenz“. Die Uferstadt wurde von den russischen Vertretern mit Stalin an der Spitze beschlagnahmt. Und so kam es, daß die Familie plötzlich und innerhalb einer Stunde aus der Wohnung vertrieben wurde.

Für eine kurze Zeit kamen sie bei Horsts Großmutter in Potsdam unter. Die Verhältnisse waren dort sehr beengt, dazu war es die schlimmste Hungerszeit. Horst erzählte einmal, wie er vor Hunger Suppe mit Maden aß.

Warsleben

Horsts Mutter (der Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft) schlug sich deswegen mit den Kindern und überwiegend zu Fuß zu Verwandten nach Warsleben durch; Warsleben ist ein Dorf in der Magdeburger Börde.

Dort verlebte Horst eine schöne Kindheit, von der er immer wieder mit Begeisterung sprach. Er hatte ausreichend zu essen, in der Nachkriegszeit keine Selbstverständlichkeit. [Er trug dort immer ein Blatt oder einen Stengel Liebstöckel in der Tasche, für den er eine besondere Vorliebe hegte. Zeit seines Lebens freute er sich darüber, wenn man ihm Liebstöckel mitbrachte.]

Aue

Als sein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, zog die Familie nach Aue im Erzgebirge. Der Vater arbeitete als Bergmann bei der Wismut; die Wismut förderte Uran. Horsts Mutter arbeitete dort in einem Kinderheim.

Babelsberg

Nach zwei Jahren dort zog die Mutter mit den Kindern nach Potsdam-Babelsberg zurück. Der Vater blieb in Aue. Mutter und Kinder bezogen eine Wohnung in der Stephensonstraße. Der Vater besuchte nur noch in Abständen die Familie in Babelsberg; er starb 1963 an Staublunge und sicherlich auch an der Strahlenkrankheit.

Gegenüber des Wohnhauses ging Horst zur Schule: In die Goetheschule. Dort lernte er Margret kennen.

Studium

Nach dem Abitur 1954 stand er vor der Frage, was er studieren solle. Er bewarb sich in Ilmenau für ein Studium der Elektrotechnik und wurde angenommen, trat dieses Studium aber nicht an. Eine Entscheidung, die er übrigens sein Leben lang bedauerte. Stattdessen fing er an der Filmhochschule in Potsdam ein Studium der Regie an. Warum das? Einfach weil es für ihn bequem war, während des Studiums zuhause wohnen zu können! Bequemlichkeit als Ursache für einen Schicksalsverlauf. Jeder prüfe sich nun selbst. War es bei Euch anders? Wenn ja, dann möchte ich gratulieren. Nicht weil das Schicksal besser, sondern weil es aktiv gewählt wurde!

Vor dem Studium an der Filmhochschule war er ein Jahr im Spielfilmstudio der DEFA als Hilfsarbeiter tätig, d.h. Entnagelungsarbeiter, Produktionsbote etc.

Ein Professor an der Filmhochschule riet Horst, an einem Eignungstest zum Schauspiel teilzunehmen; offensichtlich erkannte er sein Talent. Horst bestand mit Bravour und wechselte die Studienrichtung.

Er wurde ein sehr guter Schauspieler, sogar eine lokale Größe. Ich bin davon überzeugt, daß er auch ein hervorragender Ingenieur geworden wäre. Ich bin selbst Ingenieur und kann das einigermaßen einschätzen. Mit dem ihm eigenen Maß an nüchterner Rationalität und seiner Fähigkeit, sich Wissen anzueignen, wäre das zu erwarten gewesen.

Für seine Rationalität habe ich jetzt kein Beispiel; doch, richtig, er spielte gerne und gut Schach. Und ich erinnere mich, wie er mich 2016 völlig trocken und sachlich über den Tod meiner Schwester – seiner Tochter! – informierte. Ich fürchte aber, da kam seine Rationalität an ihre Grenzen; in der Familie besteht zum Teil die Meinung, er hätte dieses Ereignis nicht verkraftet und es sei seitdem auf sein Ende zugegangen.

Doch zurück zu seiner Rationalität: Horst verstand alle technischen Geräte gründlich. Nur das Internet, das kam zu spät für ihn, er lehnte es rundweg ab und war davon auch nicht abzubringen. Aber spielen am Computer, das tat er dann doch gerne!

Und dann sein unglaubliches Wissen! Es gab in der DDR eine Rätselzeitschrift namens „Troll“. Dort machte er nur die Kreuzgitter (das sind Kreuzworträtsel ohne Vorgabe für die Position des gesuchten Wortes; als einzige Hilfe waren die Blindfelder vorgegeben und es wurde gesagt, ob ein Wort senkrecht oder waagerecht einzutragen sei). Ich war ja noch Kind bzw. Jugendlicher; ich hatte damals den Eindruck, er fülle die Kreuzgitter aus. Nie habe ich eine ungelöste Stelle gesehen. Und wenn ich selbst mal ein Kreuzworträtsel löste und ihn nach einem Wort fragte: Er wußte ALLES. Jeden Nebenfluß, jede Opernfigur, einfach alles.

Vermutlich seine Rationalität und sein Vielwissen führten ihn auch zur Kultur. Es gab so viele und so gute Bücher im Haushalt! Ich erinnere mich an „Moby Dick“, „Die drei Musketiere“ u.v.a.m. Als Kind las ich sie übrigens; deshalb erinnere ich mich an diese Titel. Es waren aber unendlich viele mehr.

Studiumabschluß

Nach dem Studienabschluss 1959 begann er sein erstes Engagement als Schauspieler am Meininger Theater. Dorthin zog er zusammen mit Margret, und die beiden heirateten dort 1959. Übrigens in aller Stille, denn sie wollte kein Aufhebens von ihrer Hochzeit machen.

Kurze Zeit später, am Jahresende 1959, kam Christiane zur Welt. 1962 folgte Madeleine, und 1966 meine Wenigkeit.

1967 wechselte Horst an das Landestheater Halle. Er verdiente dort mehr, und so zog die Familie um. Die Wohnung (am Steintor) hatte dreieinhalb Zimmer und war demzufolge groß genug für die Familie. 1969 wurde Franka (die mittlerweile verstorben ist), und 1972 Erik geboren. Nun war die Wohnung etwas beengt, an ein eigenes Zimmer war nicht zu denken.

Synchronsprecher

Während der Jahre in Halle begann er, als Synchronsprecher zu arbeiten. Wir hatten damals kein Telefon (DDR-Zeit!) und ich erinnere mich an die häufigen Aufkleber auf unserem Briefkasten: „Telegramm im Briefkasten“. Der Text des Telegramms war dann: „Erbitte dringend Anruf“. Und ich erinnere mich an die dicken Stöße Papier (Ormeg-Druck, die damalige Kopiertechnik) mit den Texten – wir durften sie dann als Malpapier benutzen. Ja, damals gab man sich für die Synchronisation noch Mühe, die Synchronsprecher bekamen die gesamte Szene; heute ist das undenkbar, es werden die Rollen gesprochen ohne die geringste Ahnung, worum es in dem Film oder in der Szene geht. Horst hat darüber stets den Kopf geschüttelt.

Schauspiellehrer

1979 trat er eine Stelle als Oberassistent für Schauspiel an die Filmhochschule in Potsdam an, wo er nun Schauspieler*innen ausbildete. Er pendelte zuerst zwischen Halle und Potsdam, und wohnte wieder in Babelsberg bei seiner Mutter in der Stephensonstraße. Wie schon gesagt, Bequemlichkeit spielte eine große Rolle in seinem Leben. Das hat seine Vorteile, der aktuelle Mietvertrag von Familie Lampe wurde 1981 abgeschlossen. ... Euro für 116 qm – das geht nur so. Ich bin da beweglicher, ich wohne erst seit 1990 dort, wo ich jetzt noch immer wohne... ;-)

Potsdam

1981 wurde Horst das Pendeln zu unbequem, und die Familie zog nach Potsdam. In die große Wohnung in der Zeppelinstraße, damals Leninallee. Es war ein Erstbezug. Zu der großen Wohnung gehörte eigentlich ein großer Keller. Horst war so blauäugig und schloß diesen Kellerraum nicht ab. Als wir einzogen, war der Kellerraum auf unerfindliche Weise in die letzte Ecke und in eine sehr kleine Kammer gewandert. Spätestens jetzt hätte er sich kümmern müssen, aber wie gesagt, die Bequemlichkeit!

Übrigens hat die Geschichte des Kellerraums ein einigermaßen gutes Ende genommen: Weil nämlich der Kellergang dort zu Ende war, konnten wir die Tür zu unserem Keller um 90° versetzen und so die Fläche verdoppeln.

Noch zu DDR-Zeiten, 1986, hing er die Tätigkeit an der Filmhochschule an den Nagel, und arbeitete nur noch als freischaffender Synchronsprecher, ein seltener Status in der DDR.

Rente

Am 1.12.2001 ging Horst in Altersrente. Die Rente war ordentlich, Margret erhielt ja auch Rente, und zusammen konnten sie gut davon leben. Außerdem verdiente Horst beständig Geld als Synchronsprecher dazu. Er sagte mir mal, daß alte Männerstimmen gefragt wären.

Synchron

Den letzten Einsatz als Sprecher hatte er wenige Tage vor seinem Tode. Zum Ende hin wurde er auch einmal mit einem Taxi zum Synchronstudio abgeholt. – Das sagt sich so leicht, war es für ihn aber absolut nicht. Er weigerte sich standhaft, die Bequemlichkeit eines Taxis für die Fahrt vom S-Bahnhof zum Studio zu nutzen. Wirklich standhaft. Ich habe oft den Versuch gemacht, ihn zum Taxifahren zu überreden. Andere taten das auch. Es war vergeblich. Geistige Beweglichkeit scheint er noch weniger als ich gehabt zu haben. Für die Fachleute unter Euch: Horst war vermutlich extrem regeltreu.

Sein Ende: Im August wurde er dreimal mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht, zumeist weil er draußen gestürzt war. Trotz aller Warnungen der Ärzte/Ärztinnen entließ er sich selbst nach kürzester Zeit wieder. Dabei litt er große Schmerzen, denn er hatte am Kopf einen großen Tumor.

Die vierte und letzte Einlieferung erfolgte aber wegen entsetzlicher Bauchschmerzen unbekannter Ursache. Er stöhnte immer wieder: „Lieber tot als diese Schmerzen“. Im Krankenhaus erhielt er eine Infusion mit Schmerzmittel. Da ging es und er war, wie man so sagt, wieder ein Mensch, und in diesem Zustand habe ich ihn am Vortag seines Todes noch einmal besucht.

Weil es ihm wieder besser ging und weil er wieder am Leben teilnahm, ging ich optimistisch nach Hause. Ich wunderte mich nur, daß sich der Stationsarzt so lang und breit mit mir sprach. Er ahnte wohl, was passieren würde. Am nächsten Tag, am frühen Nachmittag verstarb Horst. Der Arzt rief mich mit der Nachricht von seinem Tod an; er wäre an Herzversagen aufgrund eines schwachen Herzens gestorben. Wiederbelebungsmaßnahmen hatte Horst zuvor für sich abgelehnt.

Was bleibt von Horst: Vier Kinder leben und es gibt neun Enkel und einen Urenkel. Ich vermute, er würde im nächsten Leben einiges anders machen. Weiterhin bin ich mir sicher, daß er gegenüber seinen Kindern, Enkeln und dem Urenkel nichts anders machen würde. Ich denke, er war ein sehr guter Vater, denn er hat immer und bedingungslos zu seinen Kindern gehalten. Ich denke, das ist das wichtigste, was man seinen Kindern mitgeben kann: Egal was ihr macht, egal wie ihr es macht: Ich halte mit aller Kraft zu euch.

Es gibt noch viel über Horst zu erzählen. Es folgt eine kleine Anekdotensammlung:

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