Urteil des Sozialgerichtes Potsdam von 3/2013

Aus cvo6
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Sozialgericht Potsdam

Az.: S 15 KR 124/11

Inhaltsverzeichnis

Im Namen des Volkes
Urteil

In dem Rechtsstreit

Oliver Lenz,
Carl-von-Ossietzky-Straße 6, 14471 Potsdam
- Kläger -

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Leif Steinecke,
..., 16356 Ahrensfelde,

gegen

Barmer GEK
vertreten durch den Vorstand,
Lichtscheider Straße 89, 42285 Wuppertal,
- Beklagter -

hat die 15. Kammer des Sozialgerichtes Potsdam ohne mündliche Verhandlung am []2013 Datum fehlt im Original durch die Richterin am Sozialgericht K. sowie den ehrenamtlichen Richter A. und die ehrenamtliche Richterin M. für Recht erkannt:

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine ambulante privatärztliche Venographie und Dilatation der Vena jugularis interna links.

Der 1966 geborene Kläger ist bei der Beklagten versichertes Mitglied. Im Jahr 2001 wurde bei ihm eine Multiple Sklerose diagnostiziert.

Am 20.10.2010 beantragte er die Kostenübernahme für eine am 10.11.2010 durchzuführende Duplexuntersuchung. Die Kosten würden sich auf ca. 2.500,00 bis 6.000,00 Euro belaufen. Dazu legte er ein Schreiben des kardiovaskulären Zentrums in Frankfurt/Main vom 12.09.2010 vor, dass am 10.11.2010 ein Termin für die Duplexuntersuchung vorgemerkt worden sei. Der Kläger wies darauf hin, dass er an der primär chronisch progredienten Verlaufsform der Multiplen Sklerose leide. Gegenwärtig sei er berentet, habe die Pflegestufe II und einen Schwerbehindertenausweis mit dem GdB 80, dem Merkzeichen aG und B. Ein Verschlechterungsantrag auf den GdB von 100 sei bereits gestellt worden. Sein körperlicher Zustand verschlechtere sich rapide und kontinuierlich. Eine Standardtherapie mit Kortison sei wirkungslos gewesen. Er habe nun den Verdacht, bei ihm könnte eine chronische ce­rebrale venöse Insuffizienz (CCSVI) vorliegen. Daher sei am 20.07.2010 in Frankfurt ein MS CCSVI-Protokoll nach Harke durchgeführt worden. Den Befund legte er seinem Antrag bei. Es seien typische Veränderungen im Sinne einer CCSVI festgestellt worden, die in die­ser Duplexuntersuchung abgeklärt werden sollen. Eventuell komme dann eine perkutane transluminale Angioplastie (PTA) und/oder Stentimplantation in Betracht. Dieser Eingriff könnte dann am 12.11.2010 durchgeführt werden. Erfahrungsberichte bereits operierter Patienten zeigen, dass MS-Kranke nach der Dehnung der verengten Venen enorme Veränderungen zum Guten haben feststellen können. Des Weiteren wies er auf das Urteil des Bun­dessozialgerichtes vom 04.04.2006 (Aktenzeichen B 1 KR 7/05 R) hin. Die Beklagte sei danach bei lebensbedrohenden oder tödlich Verlaufenden Krankheiten zur Leistung ver­pflichtet. Das Landessozialgericht Schleswig-Holstein habe in einem Urteil ausgeführt, dass die Multiple Sklerose den lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkran­kung im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 06.12.2005 (1 BVR 347/98) gleichzustellen sei.

Die Beklagte wandte sich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MdK), der unter dem 22.11.2010 feststellte, dass eine Kostenübernahme nicht befürwortet werden

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könne. Es handele sich hier um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, für die in der Fachwelt nur vereinzelt eine theoretische Grundlage diskutiert werde.

Mit Bescheid vom 30.11.2010 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und beantragte unter Vorlage der Rechnung vom 23.12.2010 die ihm entstandenen Kosten in Höhe von 1.991,68 Euro zu erstatten. Zur Be­gründung verwies er im Wesentlichen auf die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 06.12.2005.

Am 10.01.2011 lehnte die Beklagte erneut eine Kostenübernahme bzw. Kostenerstattung ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.03.2011 als Unbegründet zurück. Grundsätzlich gelte im Rahmen der gesetzlichen Kran­kenversicherung das Sachleistungsprinzip. Nach § 13 Abs. 2 SGB V sei eine Kostenerstat­tung möglich, wenn der Versicherte zwischen Sachleistung und Kostenerstattung gewählt habe und zuvor eine Genehmigung erteilt worden sei. Dies scheide im Falle des Klägers aus, da er Kostenerstattung nicht gewählt habe. Einzige Grundlage könne daher § 13 Abs. 3 SGB V sein. Eine unaufschiebbare Leistung, somit ein Notfall, sei im Falle des Klägers zu verneinen. Die Beklagte habe die Leistung auch nicht zu Unrecht abgelehnt. Es handele sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, zu der der Gemeinsame Bundes­ausschuss noch keine Empfehlung abgegeben habe. Bei der von dem Kläger in Anspruch genommenen Leistung handele es sich nicht um eine Vertragsleistung. Eine Kostenerstat­tung sei daher nicht möglich. Darüber hinaus habe der MdK in seinem Gutachten vom 22.11.2010 ausgeführt, dass zu der von dem Kläger begehrten Untersuchung und Behand­lung keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen.

Mit seiner am 18.04.2011 vor dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Unter Vertiefung seines Vorbringens im Widerspruchsverfahren verweist er nochmals darauf, dass es sich bei der Multiplen Sklerose um eine lebensbe­drohliche Erkrankung handelt, so dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 einschlägig sei.

Der Klägerbevollmächtigte beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 30.11.2010 und 10.01.2011 beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.03.2011 zu verurteilen, dem Kläger

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die für die am 10.11.2010 durchgeführte Duplexuntersuchung entstandenen Kosten in Höhe von 1.991,68 Euro zu erstatten.
Ich wundere mich: es ging mir doch nicht nur um die Kosten der Duplexuntersuchung, sondern vor allem um die Kosten der Angiographie! Und die war so teuer. Die Duplexuntersuchung selber (d.h. Doppler-Ultraschalluntersuchung) schlug ja nur mit ca. 250 € zu Buche.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt ihres Widerspruchsbescheides.

Das Gericht hat Befundberichte von den behandelnden Ärzten Dr. Zomak, Dr. Boschmann und Dr. Altmann sowie den Entlassungsbericht der medizinischen neurologischen Rehabilitation vom 14.08.2009 bis 04.09.2009 beigezogen. Dr. Zomak hat mir 2001 die Erstdiagnose gestellt. Ihn habe ich nur dieses einzige Mal gesehen. Und 2009, zur Reha, lief ich noch zu Fuß. Was auch immer diese Leute sinnvolles aussagen können.

Mit Beweisanordnung vom 01.06.2012 hat das Gericht ein neurologisches Sachverständigengutachten von Dr. Christe eingeholt. Das Gutachten ist am 05.12.2012 nach körperlicher Untersuchung des Klägers am 11.10.2012 erstellt worden. Zwei Monate nach der Untersuchung ist das Gutachten erst erstellt worden?! Was will der Herr dann noch gewußt haben?? Wegen des Inhalts des Gutachtens wird auf Blatt 65 ff. der Gerichtsakte verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten bezug genommen. Diese haben den Bericht vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGB) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis erklärt haben.

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erstattung der ihm durch die am 12.11.2010 ambulant durchgeführte Venographie entstandenen Kosten.

Vorliegend kommt als Anspruchsgrundlage allein § 13 Abs. 3 Fünftes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht. Danach sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung von

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Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine un­aufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten ent­standen sind, soweit die Leistung notwendig war. Ein Fall der Unaufschiebbarkeit ist nach Auffassung des Gerichtes hier nicht gegeben.

Auch die zweite Alternative des § 13 Abs. 3 SGB V - eine zu Unrecht abgelehnte Leistung - ist nicht erfüllt. Voraussetzung ist in diesem Fall, dass die Krankenkasse die Leistungsge­währung vor Inanspruchnahme der selbst beschafften Leistung abgelehnt hat. Vorliegend hat der Kläger die Duplexuntersuchung am 12.11.2010 durchführen lassen und die Kosten­übernahme am 20.10.2010 beantragt. Die Beklagte hatte somit die Möglichkeit, vor Inan­spruchnahme der Leistung zu prüfen, ob die beanspruchte Behandlung im Rahmen des vertragsärztlichen Versorgungssystems bereit gestellt werden kann und falls dies nicht möglich, ob sie zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehört, insbesondere den Anforderungen der Geeignetheit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leis­tungserbringung (§ 12 Abs. 1 SGB V) genügt. Ein Anspruch auf Kostenerstattung ist jedoch nur zu bejahen, wenn zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand (der rechtswidrigen Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursa­chenzusammenhang besteht (bspw. BSG SozR 4-2500 § 13 Nr. 8 m. w. N.). Der erforderli­che Ursachenzusammengang zwischen der Ablehnung der Krankenkasse und der Kostenbe­lastung des Versicherten liegt nicht vor, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme einer vom Versicherten selbst beschafften Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre. Die vorherige Antragstellung ist durch den Kläger rechtzeitig am 20.10.2010 erfolgt, jedoch hat der Kläger sie vor der Entscheidung der Beklagten durchführen lassen. Die Kammer bejaht gleichwohl einen grundsätzlichen Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung, da der Beklagte bei der Antragstellung am 20.10.2010 bekannt war, dass die Untersuchung am 10.11.2010 erfolgen soll und sie genü­gend Zeit hatte, auf den Antrag des Klägers reagieren. Das "zu" fehlt im Original

Es ist bei der Prüfung des Ursachenzusammenhanges auch zu beachten, ob der Versicherte sich bereits vor der Antragstellung, somit unabhängig von der Entscheidung der Kranken­kasse, auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung bei einem nicht zugelassenen Leis­tungserbringer oder auf eine bestimmte Behandlungsart festgelegt hat (vgl. LSG, Berlin- Brandenburg, Urteil vom 05.08.2009, L 9 KR 80/08; zitiert nach juris). Dies ist nach Auf­fassung der Kammer nach den vorliegenden Unterlagen zu bejahen. Wenn auch nachvoll­ziehbar, hatte sich der Kläger bereits vor der Antragstellung auf Kostenübernahme bei der

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Beklagten darauf festgelegt, diese Untersuchung in Frankfurt/Main durchführen zu lassen. Ihm war zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass eine privatärztliche Abrechnung nach der GOÄ erfolgen wird, der voraussichtliche Termin der Untersuchung war für den 10.11.2010 ver­einbart. Ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers dürfte daher bereits wegen des fehlen­den Ursachenzusammenhanges ausscheiden.

Die am 30.11.2010 erfolgte Ablehnung der Übernahme der Kosten ist aber auch nicht zu Unrecht erfolgt ist. Zweimal "ist" im Original. Ein Kostenerstattungsanspruch setzt voraus, dass die selbst beschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben, da ein Kostenerstattungsanspruch nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch reichen kann (vgl. stg. Rspg. BSG, bspw. Urteil vom 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R; zitiert nach juris).

Ein solcher Anspruch bestand für den Kläger nicht. Nach § 27 Abs. 1 SGB V haben Versi­cherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheiten oder Krankheits­beschwerden zu lindem. Dieser Behandlungsanspruch unterliegt den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen der Zweckmäßig- und Wirtschaftlichkeit. Eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besteht daher nicht, wenn eine bestimmte Therapie nach eigener Einschätzung der Versicherten oder der behan­delnden Ärzte positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte die Therapie befürwortet haben. Vielmehr muss die betreffende Therapie von der Leistungspflicht der GKV umfasst sein. Wie bereits der MDK in seinem Gutachten vom 22.11.2010 festgestellt hat, stellen interven­tionelle Maßnahmen im venösen System des Kopf-/Halsbereiches (Hirnsinus, Hirnvenen, Halsvenen) - hier im Rahmen der Diagnostik und zur Behandlung einer multiplen Sklerose - eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar.

Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung aber nur dann zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat. Vorliegend hat der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Empfehlung - weder positiv noch negativ - abgegeben, es mangelt bereits an einem entspre­chenden Antrag nach § 135 SGB V. Auch ein Systemversagen steht dem Kläger hier nicht zur Seite, dies insbesondere dahin gehend, dass bislang noch nicht einmal ein Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss gestellt worden ist.

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Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bei Vorliegen einer notstandsähnlichen Krankheitssituation ist ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers nicht gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98, zitiert nach juris) entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i. m. V. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohli­che oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Stan­dard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn nicht eine ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Ein­wirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach Berücksichtigung aller vorliegenden Un­terlagen sind diese Voraussetzungen nicht gegeben. Ein sog. Seltenheitsfall, d. h. eine Krankheit und ihre Behandlung entzieht sich einer systematischen Erforschung, so dass eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkasse in Betracht kommt, liegt hier nicht vor.

Wenngleich es sich bei der Multiplen Sklerose um eine schwerwiegende Krankheit handelt, ist sie nicht der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung genannten lebensbe­drohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung gleichzustellen. Speziell bei Vorliegen einer Multiplen Sklerose mit sekundär-progredienter Verlaufsform hat das BSG selbst in schweren Krankheitsfällen eine akute Lebensgefahr verneint.

Ich habe eine *primär* chronisch progrediente Verlaufsform! Das steht in jeder Epikrise! Einzig und alleinig in meiner ersten Epikrise, die kurz nach der Diagnose im Jahr 2001 entstand, ist die Rede von: "Anamnesisch lässt sich der Krankheitsverlauf nicht eindeutig zuordnen, ein zunächst schubförmiger Verlauf mit sekundär chronischer Progredienz kann jedoch angenommen werden, so dass eine Therapie mit Betaferon möglich wäre."

„Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden aku­ten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf inner­halb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirkli­chen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kom­pensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körper­funktion gelten.“ (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007, B 1 KR 17/06 R; zitiert nach juris).

Der Kläger leidet zwar nicht an der sekundär-progredienten Verlaufsform, jedoch gilt für seine Verlaufsform dasselbe. Bei der Multiplen Sklerose werden verschiedene, je nach dem Auftreten von Schüben, Verlaufsformen unterschieden. Bei der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose kommt es zu unvorhergesehenen Schüben, die zu Einschränkungen füh­ren, die sich anfangs ganz und später nur noch teilweise zurückbilden. Die sekundär progre-

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diente Multiple Sklerose ist durch eine langsame Zunahme neurologischer Dysfunktionen gekennzeichnet. Zusätzlich können sich aber hier noch Schübe auf den fortschreitenden Verlauf aufpfropfen. Im Gegensatz zu den anderen Formen der Multiplen Sklerose beginnt die primär progrediente Multiple Sklerose nicht mit Schüben, sondern mit einer schleichen­den Progression der neurologischen Defizite ohne Rückbildung. Schübe treten sehr selten hinzu (vgl. www.wikipedia.de).

In den hier vorliegenden ärztlichen Unterlagen wird zwar übereinstimmend von einer Mul­tiplen Sklerose ausgegangen, jedoch sind die Verlaufsformen unterschiedlich bezeichnet. Übereinstimmend ist die Bezeichnung chronisch-progredient, d. h. eine lang anhaltende oder bleibende Erkrankung, in deren Verlauf die Symptome zunehmen oder zusätzliche Symptome entstehen (vgl. Erstdiagnose im Jahr 2001, Entlassungsbericht der stationären neurologischen Rehabilitation vom 24.09.2009, Befundbereicht der behandelnden Neurolo­gin vom 29.02.2012 und der Arztbrief des Institutes für Bildgebende Diagnostik vom 21.07.2010). Der Kläger selbst spricht von der primär chronisch progredienten Erkrankung, wie dies dann auch in dem Arztbrief vom 21.07.2010 seinen Niederschlag findet. Der vom Gericht beauftragte Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 05.12.2012 zu der Diagnose Multiple Sklerose, Erstdiagnose 1997 Nanu?? Meine Erstdiagnose war 2001! Wo kommt jetzt das Jahr "1997" her?, anfangs wahrscheinlich schubförmige, dann sekundär chronisch progrediente Verlaufsform. Die Kammer geht davon aus, dass au­ch bei Annahme der primär progredienten Verlaufsform trotz der Schwere der Erkrankung nicht die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung benannte notstandsähnliche Situation zu bejahen ist und eine verfassungskonforme Auslegung einen Anspruch des Klä­gers auf Kostenerstattung nach sich zieht.

Darüber hinaus ist der Kläger auch nicht unversorgt. Die Multiple Sklerose ist zwar gegen­wärtig noch nicht heilbar, jedoch stehen sowohl Untersuchungs- als auch Behandlungsme­thoden im Rahmen der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen zur Verfügung, so dass auch aus diesem Grund eine verfassungskonforme Auslegung des geltenden Rechts ausscheidet. Sehr witzig. Behandlungsmethoden bei der PPMS bestehen in keinster Weise! Die Diagnose resultiert aus den Ergebnissen mehrerer Untersuchungen, zu de­nen u. a. die Neurologische Untersuchung, die Magnetresonanztomografie (MRT) oder auch eine Lumbalpunktion zählen. Aufgrund der verschiedenen Verlaufsformen der Multiplen Sklerose und insbesondere der Tatsache, dass gegenwärtig noch keine gesicherten Erkennt­nisse über die Ursachen der Erkrankung vorliegen, gibt es grundsätzlich keine Standardthe­rapie, jedoch stehen mehrere Behandlungsformen zur Verfügung (vgl. hierzu: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Stand: 09.08.2012 unter www.awmf.org). Das widerspricht sich! Einerseits wird anerkannt, dass es keine gesicherten Erkenntnisse über die Ursache der MS gibt und demzufolge keine Standardtherapie, es stünden aber mehrere Behandlungsformen zur Verfügung. Häh??? Die Multiple Sklerose wird allgemein als Auto-

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immunerkrankung verstanden. Trotz intensiver Forschung in den vergangenen Jahren ist nur wenig über die Entstehungsmechanismen bekannt. "Wenig" ist ein Understatement. "Nichts" wäre korrekt. Diskutiert werden Umweltfaktoren, vor allem virale Infektionen, ebenso wie der Vitamin-D-Spiegel im Blut und die Sonnenein­strahlung. Außerdem beeinflussen genetische Varianten das Krankheitsgeschehen (Presse­mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 08.07.2012).

Die der beim Kläger durchgeführten Duplexuntersuchung zugrunde liegende Hypothese, dass mögliche Ursache der Multiplen Sklerose eine chronische zerebrospinale venöse Insuf­fizienz sei, findet, wie bereits vom MDK als auch vom Sachverständigen ausgeführt, auf­grund fundierter fehlender Nachweise in der wissenschaftlichen Fachwelt keine Bestätigung (vgl. dazu im Einzelnen: „Chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz und Multiple Skle­rose“ in: Der Nervenarzt 6/2010, S. 740- 746).

Die Kostenübemahme ist im Ergebnis daher durch die Beklagte zu Recht abgelehnt worden, so dass auch ein Anspruch auf Kostenerstattung nicht besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Rechtsmittelbelehrung

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
Försterweg 2-6
14482 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Ge­schäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem

Sozialgericht Potsdam
Rubensstraße 8
14467 Potsdam,
schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Ge­schäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Pots­dam schriftlich oder in elektronischer Form zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so be­ginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.

Die elektronische Form wird durch eine qualifizierte signierte Datei gewahrt, die nach den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Brandenburg vom 14. Dezember 2006 (GVB1. II S. 558) idF vom 1. Oktober 2007 (GVB1. II S. 425) in die elektronische Poststelle des jeweiligen Gerichts zu übermitteln ist. Nähere Hinweise zu den Kommunikationswegen für den elektronischen Rechtsverkehr können unter der Inter­netadresse www.erv.brandenburg.de abgerufen werden.

Dr. Kuhnke
Richterin am Sozialgericht

Ausgefertigt
gez. S.
Justizbeschäftigte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

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