Urteil zum Rollstuhlunfall am 9.7.2009

Aus cvo6
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37 20/10 verkündet am 07.04.2011

Ibri Justizhauptsekräterin, als Urkundenbeamtin der Geschätsststelle

Amtsgericht Potsdam: Im Namen des Volkes

Inhaltsverzeichnis

Urteil in dem Rechtsstreit

Oliver Lenz, Carl-von-Ossietzky-Str. 6, l4471 Potsdam
- Kläger -
- Prozessbevollmächtigter: Leif Steinecke, Rebhuhnwinkel 46, 16356 Ahrensfelde, Az.: 180-

gegen

Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH vertr.d.d. Geschäftsführer Martin Weis, Fritz-Zubeil-Straße 96, 14482 Potsdam
- Beklagte -
- Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt A. D., []-Straße [], [], Az.: 153/10 -

hat das Amtsgericht Potsdam auf die mündliche Verhandlung vom 21.03.2011 - durch Richter am Amtsgericht Lange

für Recht erkannt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3.12.2010 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, für zukünftige gesundheitliche Schäden oder Verschlechterung des Klägers, die aufgrund des Unfalls vom 09.07.2009 noch eintreten, Schadensersatz zu leisten.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 10 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Der Kläger ist an multipler Sklerose leidend und auf die Nutzung des Rollstuhls angewiesen. Er ist in seiner Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt. Da er linksseitig gelähmt ist, muss er einen sogenannten Stoßhebel-Rollstuhl (vgl. das Foto GA Bl. 42) benutzen. Dieser ist schwer von Gewicht und relativ schwer zu bewegen. Für Richtungsänderungen auf dem Weg des Rollstuhls muss der Kläger diesen mehrmals unter Einsatz der Armhebel vor- und zurückbewegen. Der Wendekreis des Rollstuhls beträgt ca. 3 Meter.

Am 9.7.2009 gegen 11.00 Uhr wollte der Kläger an der Haltestelle "Bahnhof Park Sanssouci" in Potsdam in den Bus der Linie 695 in Richtung Bahnhof Pirschheide einsteigen. Der Zeuge K., der Fahrer des Busses war dem Kläger bei dem Einstieg über die ausgeklappte Rollstuhlrampe behilflich und schob den Rollstuhl mit dem Kläger in den Mittelteil des Busses. Der Zeuge K., der den Kläger nunmehr im Mittelteil des Busses befindlich wusste, fuhr von der Haltestelle los. Nach einer Fahrstrecke von ca. 150 Metern bei der Durchfahrt durch die Unterführung am Bahnhof Park-Sanssouci bremste der Fahrer den Bus stark ab. Dadurch kippte der Kläger mit dem Rollstuhl um und stürzte mit dem Brustkorb auf den Handhebel des Rollstuhls.

Der Kläger hatte starke Schmerzen und musste Minuten lang brüllen. Das Angebot des Fahrers, der den Bus sofort anhielt, einen Arzt zu rufen, lehnte der Kläger ab. Er stieg an der folgenden Haltestelle aus, weil er sich verpflichtet fühlte, einen Unterricht, den er in der Montessori-Schule zu geben hatte, pünktlich stattfinden zu lassen. Dort traf er dann die Zeugin Wohnig. Diese begleitete den Kläger nach der Unterrichtsveranstaltung zu Dr. Dannenberger, der einen Bruch der 7. Rippe und eine Zerrung an der rechten Schulter diagnostizierte.

Vom 9.7.2009 bis 14.7.2009 wurde der Kläger zu Hause hauswirtschaftlich und medizinisch betreut. Der Kläger litt unter immer stärker werdenden Schmerzen im Brustbereich und in der Schulter und an den Füßen. Er konnte sich zunehmend weniger bewegen. Weil die gebrochene Rippe die Lunge verletzt hatte, bildete sich im ganzen Körper ein Luftemphysem aus.

Der Kläger musste sich dann stationär ins St.-Josef-Krankenhaus begeben, wo er operiert wurde und vom 14.7.2009 bis 22.7.2009 blieb. Er bekam zur Wiederherstellung der Lunge eine Thoraxdrainage. Als Folge des Unfalls wurde in der Klinik ein Bruch der 7. und der 8. Rippe festgestellt, ein Pneumothorax, ein Weichteilschaden und das Emphysem. Vom 14.8.2009 bis zum 4.9.2009 musste der Kläger im Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme behandelt werden.

Während der ganzen Behandlungsdauer litt der Kläger an starken Schmerzen, insbesondere auch durch die Thoraxdrainage, die den Kläger an jeglicher Positionsveränderung hinderte. Bis Ende September konnte sich der Kläger nicht einmal alleine auf die Toilette setzen, noch das Haus alleine verlassen. Seine beiden Kinder, die regelmäßig am Wochenende beim Kläger sind, konnten ihn erst wieder im Oktober besuchen.

Der Kläger ist der Ansicht, der Bus sei zu schnell angefahren und habe zu abrupt gebremst. Die Geschwindigkeit des Busses sei den örtlichen Verhältnissen nicht angepasst gewesen. Er habe im Bus so hingestellt fahren müssen, wie ihn eben der Fahrer hingeschoben hatte. Auf ein Erreichen einer verkehrssicheren Position des Klägers habe der Fahrer nicht gewartet, sondern sei einfach angefahren. Während der Fahrt sei es dem Kläger aber nicht mehr möglich gewesen, eine sichere Position zu erreichen.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld in vom Gericht festzusetzender Hohe, mindestens jedoch 4.000,00 EUR nebst Zinsen in Hohe von 5% über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 3.12.2010 zu zahlen,
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, für zukünftige gesundheitliche Schäden oder Verschlechterung des Klägers, die aufgrund des Unfalls vom 09.07.2009 noch eintreten, Schadensersatz zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, der Kläger hätte im Mittelteil des Busses den Rollgurt benutzen müssen, um sich, mit dem Rücken in Richtung der Prallplatte gegen die Wirkung der durch die Fahrbewegungen entstehenden Kräfte zu sichern. Der Fahrer würde den Kläger aufgefordert haben, sich unter Verwendung des Gurtes zu sichern, was der Kläger aber abgelehnt habe. Der Fahrer sei vor dem Anfahren davon ausgegangen, dass sich der Kläger entsprechend gesichert hätte.

Der Bus sei nicht schnell beschleunigt worden. Beim Erreichen der Unterfhrung habe er gerade eine Geschwindigkeit von 21 km/h innegehabt. Weil dem Zeugen K. im Bereich der Unterführung an deren Ausgang ein Bus, der sich teilweise auf der Gegenspur befand, entgegengekommen sei, habe er abbremsen müssen. Der Kläger habe nach seinem Umfallen zwar geschrien, doch sei er nicht sichtbar verletzt gewesen.

Der Kläger müsse sich ein erhebliches Mitverschulden zuschreiben. Hinweisschilder, dass der Rollstuhl rückwärts an die Prallplatte zu fahren sei und der Sicherheitsgurt anzulegen, habe der Kläger missachtet. Der Kläger hätte nicht umfallen müssen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Anhörung des Zeugen K. und der Zeugin Wohnig. Wegen der Beweisthemen und der Beweisergebnisse wird auf den Beweisbeschluss (GA Bl. 81 f.) und die Sitzungsniederschrift vom 21.3.2011 (GA Bl.90-93) verwiesen. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in der zuerkannten Höhe zu aus §§ 14 BefBedV, 1 PflVG und 253 Abs. 1 und 2 BGB. Der Kläger war Fahrgast im Omnibus der Beklagten. Er wurde während der Fahrt in der Folge eines plötzlichen Abbremsens mit dem Rollstuhl herumgerissen und stürzte um. Dabei fiel er ungünstig und stieß mit dem Brustkorb auf einen der Handhebel seines Rollstuhls.

Er wurde schwer verletzt. Er erlitt einen offenen Bruch der 7. Und 8. Rippe, einen Pneumothorax, einen Weichteilschaden und ein Emphysem.

Nach dem Unfall verbrachte der Kläger 6 Tage zuhause im Zustand stark eingeschränkter Beweglichkeit. Danach musste er im Krankenhaus operiert werden und hielt sich dort für neun Tage auf. Ihm wurde im Krankenhaus eine Thoraxdrainage gelegt, was ihm Lageveränderungen sehr erschwerte. In der Folge musste der Kläger zur Wiederherstellung seiner Bewegungsfähigkeit an einer dreiwöchigen stationären Rehabilitationsmaßnahme teilnehmen.

Der Kläger hatte über zwei Monate starke Schmerzen. Während dieser Zeit konnte er nicht alleine die Toilette aufsuchen. Über mehr als zwei Monate konnte er den Besuch seiner beiden Kinder nicht wahrnehmen.

Der Kläger hat diesen Unfall ohne eigenes Verschulden erlitten. Wie sich aus der Vernehmung des Zeugen K. eindeutig ergab, wurde der Kläger vom Zeugen K. in den Mittelteil des Busses geschoben. Eine Drehung in die Fahrtrichtung unterblieb, weil der Rollstuhl für den Zeugen K. zu schwer zu bewegen war. Der Zeuge schilderte eindringlich, dass er solch einen Rollstuhl noch nie gesehen habe. Der Kläger wurde nicht einmal bis an die rückwärtige Wand des Mittelteils im Bus geschoben, dorthin, wo sich eine Prallplatte befindet. Der Zeuge K. sagte aus, dass es nicht möglich gewesen wäre, den Gurt zu benutzen, weil dieser nicht um den Kläger in seinem Rollstuhl herumgereicht hatte. Auf eine Sicherung des Klägers wurde also seitens des Busfahrers verzichtet.

Es blieb dem Kläger nicht ausreichend Zeit, sich in eine auch nur halbwegs gesicherte Position, in der er sich wenigstens hätte festhalten können zu begeben. Zwar brauchte es einige Sekunden, bis der Zeuge K. wieder seinen Fahrerplatz eingenommen hatte und dann schlossen erst die Türen und es ertönte ein Warnsignal vor dem Abfahren, doch war diese Zeit für eine Bewegung des Klägers mit dem schwerfälligen Rollstuhl nicht ausreichend.

Das Gericht hat im Verhandlungssaal einen Eindruck von der beschränkten Mobilität des Klägers gewinnen können. Eine Richtungsänderung dauert für den Kläger mehr als Sekunden. Für ein Rangieren in eine gesicherte Position im Bus hätte es nach der Erkenntnis des Gerichts ca. zwei Minuten gebraucht. Diese Zeit wurde dem Kläger nicht gegeben. Der Kläger befand sich danach, als der Bus losfuhr in einer sehr riskanten Position. Der Busfahrer hätte das nicht hinnehmen dürfen. Da der Kläger krankheits- und lähmungsbedingt über keine großen Kräfte verfügt, konnte er während der Fahrt des Busses kaum Bewegungen leisten, die seine Position sicherer gemacht hätten.

Diese geringe Sicherung der Position des Klägers wirkte sich, als der Fahrer den Bus aus langsamer Fahrt plötzlich abbremsen musste, verhängnisvoll aus. Der Zeuge K. bekundete hierzu, dass eine Bremsung aus geringer Geschwindigkeit oft stärker wirkt, als eine Bremsung aus höherer Geschwindigkeit. Das ist nachvollziehbar, da bei geringer Geschwindigkeit die Bremsen voll wirken können. Hier bremste der Zeuge K. so plötzlich, dass so starke Verzögerungskräfte wirkten, dass der Rollstuhl umfallen musste.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes war zu berücksichtigen, dass der Unfall des Klägers alleine durch die Beklagte bzw. deren Fahrer verursacht wurde, weil dieser die gebotene Sicherung des Klägers unterließ und dem Kläger auch nicht Zeit genug vor Beginn der Fahrt einräumte, damit dieser selbst für seine Sicherung sorgte.

Die Verletzungen des Klägers waren erheblich, seine Schmerzen stark und langandauernd. Die durch die Verletzung verursachten Beschränkungen seiner vitalen und sozialen Funktionen waren ganz erheblich.

Zum Ausgleich für die erlittenen Verletzungen, Leiden und Beeinträchtigungen, aber auch zur Genugtuung des Klägers für die angesichts eigener hilfloser Lage durch mangelnde Wahrnehmung von Sicherungspflichten verursachte Schmerzen ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000,00 EUR wohl angemessen. Das Gericht hat sich bei Vergleichsfällen an den bei Hacks, Ring, Bohm, Schmerzensgeldbeträge 2010, 28.A. geschilderten Fällen Nr. 937 und 973 orientiert.

Der Zinsanspruch des Klägers folgt aus §§ 291, 288 Abs.1, S.2 BGB.

Dem Kläger kann auch die begehrte Feststellung der Verantwortlichkeit der Beklagten für die etwa künftig noch als Folge des Unfalls auftretenden Beeinträchtigungen und Verschlechterungen verlangen. Das gem. § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich aus der Möglichkeit, dass Schäden möglicherweise erst dann auftreten, wenn ihrer Geltendmachung im Prozess die Einrede der Verjährung entgegengehalten werden könnte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 709 S.1 ZPO.

Lange

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